Nachtragender Staat

Sonja ist frei. Ich kenne sie nicht obwohl ich sie mehrfach gesehen habe. Ich kreuzte kurz ihren Weg als ich nach einer Aktion gegen den Castortransport 2011 für drei Tage in der JVA Preungesheim inhaftiert wurde. Sonja war bis zum vergangenen Dienstag die älteste Gefangene in Hessen. Mit 81 Jahre im Gefängnis. Warum?

Weil der Staat sich gerne nachtragend zeigt.

Sonja ist frei. Ich kenne sie nicht obwohl ich sie mehrfach gesehen habe. Ich kreuzte kurz ihren Weg als ich nach einer Aktion gegen den Castortransport 2011 für drei Tage in der JVA Preungesheim inhaftiert wurde. Sonja war bis zum vergangenen Dienstag die älteste Gefangene in Hessen. Mit 81 Jahre im Gefängnis. Warum?

Weil der Staat sich gerne nachtragend zeigt.

Sonja begegnete ich vor einigen Monaten zum zweiten mal. Ich kann nicht mehr genau sagen, wann es war. Ich konnte sie nur durch eine Plexiglas-Scheibe sehen. Sie saß auf der Anklagebank . Auch ihr Weggefährter Christian saß in diesem tristen Raum. Die Vorwürfe gegen die Beiden bezogen sich auf Vorfälle, die sich vor 40 Jahren ereignet haben sollen. Auf einer politisch sehr bewegten Zeit. Es ging u.a. um Brandanschläge gegen das Atomprogramm.

Im Zeugenstand wurde ein gewisser Hans-Joachim Klein befragt. Er verstrickte sich in unzähligen Widersprüchen und hinterließ mir einen sehr arroganten Eindruck. Um einer hohen Haftstrafe für seine Beteiligung an Anschlägen, die in den 70er Jahre Menschenleben kosteten, zu entgehen, nahm er die Kronzeugenregelung in Anspruch. Er machte im eigenen Prozess Aussagen, er verriet ehemalige WegbegleiterInnen. Aber nicht nur: er hat einen Hang zum Übertreiben, sieht sich als Opfer, das eingerollt worden wäre. Und erzählt und erfindet alles mögliche.

Der Raum des „Terrorprozesses“ – wie er manchmal bezeichnet wurde – erinnerte mich an den eigenen Frankfurter Prozess vor drei Jahren: ich saß ebenfalls hinter der Plexiglasscheibe auf der Anklagebank. Der Vorwurf bei mir lautete aber auf einen einfachen Hausfriedensbruch wegen einer Baumbesetzung mitten in den Wald. Sonja und Christian hatten es mit anderen Vorwürfen zu tun. Das Strafverfolgungsinteresse war so schwerwiegend, dass die Staatsanwaltschaft Sonja und Christian aus Frankreich, wo sie über 30 Jahre in Exil gelebt haben, ausliefern ließ. Präsident Sarkosy spielte mit. Die beiden wurden sofort inhaftiert. Der schwer kranke Christian, der nach einem Herzinfarkt einen Großteil seiner Erinnerungen verloren hat, wurde relativ schnell frei gelassen. Soja blieb zwei Jahre in Untersuchungshaft – obwohl diese normalerweise nicht länger als sechs Monate andauern darf. Der hohe Alter von Sonja war dem Gericht egal. Ich weiß wie es in der JVA Preungesheim aussieht. Das muss eine sehr hohe Belastung für Sonja gewesen sein.

Der Vorwurf lautete auf Mord, die Anklage basierte auf Aussagen des dubiosen Kronzeugens Klein. Das rechtfertigte 2 Jahre Untersuchungshaft! Aus der Mordanklage wurde nichts. Auch bei dem Vorwurf der Beteiligung Sonjas an Brandanschlägen war die Beweislage äußert dünn. Eine Zeugin, von der das Gericht eine Aussage erpressen wollte, saß vier Monate in Erzwingungshaft. Vier Monate Haft, einfach per Beschluss. Sie bleib aber dabei: sie sagte nicht aus. Das Gericht griff schließlich auf „Folterprotokolle“ zurück. Auf die längst zurück gerufene Aussage eines Menschen, der schwer verletzt unzurechnungsfähig, traumatisiert im Krankenhaus lag, als ervernommen wurde. Wo ist die Würde? Warum ist der Staat so nachtragend?

Sonja und Christian sollen damals der „revolutionären Zellen“ angehört haben. Ich kenne mich um ehrlich zu sein mit dieser Zeit sehr wenig aus. Ich war nicht einmal geboren. Ich weiß, dass die RZ sich für radikalem politischen Protest entschieden hatten, Menschenleben wollten sie aber nicht gefährden. Aber diesbezüglich soll es auch Konflikte gegeben haben, weil es Entwicklungen gegeben haben soll, die eben dagegen verstießen. Nur ich weiß das nur vom Hören Sagen. Denn ich habe mich mehr mit der Geschichte der Antiatom Bewegung, als mit der der RZ beschäftigt. Der Widerstand gegen die Atomkraft ist immer vielfältig gewesen.

Ich habe meine eigene Eichhörnchen-Art mich politisch zu betätigen . Aber Widerstand lebt von Vielfalt und nur mit dieser kann er erfolgreich sein. Ich habe für andere Aktionsformen – die vielleicht als „radikaler“ gelten, wenn es überhaupt eine solche Hierarchie geben kann – also durchaus Verständnis – sofern keine Menschen gefährdet werden und die Dinge zum richtigen Zeitpunkt geschehen:-)

Über das Geschehen vor 40 Jahren erlaube ich mir – mangels ausreichender Kenntnisse über das damalige Geschehen und den damaligen politischen Kontext – kein Werturteil.

Zu den Umständen des Prozesses gegen Sonja und Christian kann ich mir ein solches Urteil erlauben.

Die Mordanklage ist in sich zusammengebrochen. Es war schon vor Beginn des Prozesses absehbar. In anderen RZ Prozessen war der einzige Belastungszeuge Hans-Joachim Klein schon durch seine Unglaubwürdigkeit aufgefallen. Aber genau auf diese Anklage stützte das Gericht die Verlängerung der Untersuchungshaft. Sonja musste von diesem Vorwurf schließlich frei gesprochen werden. Übrig blieben Brandanschläge ohne Personenschaden. Wo die Beweisführung auf Folterprotokolle fusste. Das Gericht hat zwar eine Gefährdung in der Möglichkeitsform festgestellt, à la „Hätte sein können dass…“ , das war zu erwarten , denn nach dem Wegfall des Mordvorwurfs geriet es in Begründungsnot für eine mehrjährige Haftstrafe, da Sonja sich seit über 2 Jahren schon in Haft befand…

Das Urteil lautet letztlich 3 Jahre und 6 Monate. Sonja kam sofort frei, weil sie bereits über zwei Drittel dieser Zeit in U-Haft gesessen hat. Nach 2/3 können Gefangenen beantragen, dass die Reststrafe zur Bewährung ausgesetzt wird – bei einer 81Jährigen ist es nahe liegend.

Mein Fazit: Die Justiz hat ein mal mehr ihre Absurdität gezeigt. Man will angeblich « Gerechtigkeit », hält sich selbst aber nicht mal an die Menschenrechte oder den Rechtsstaatsprinzip (Verwertung von Folter-Protokollen, etc.) Die vorsitzende Richterin Stock war befangen. Zumindest im eigenen System  befangen. Wenn es um Gerechtigkeit ginge, säßen andere Menschen auf der Anklagebank. Die Anklage gegen die Atomlobby würde auf Mord von Milionen Menschen lauten.

Nachfolgend dokumentiere ich die Erklärung der Soligruppe zum Urteil. Den letzen Satz würde ich umschreiben: Freiheit für alle Gefangenen! Nicht nur für die „politischen“. Mit Knast werden keine Probleme gelöst – sondern zusätzlich geschaffen. (siehe auch mein K(n)astortagebuch dazu).

Seite der Soligruppe, mit Hintergründen, Prozessberichten, etc.

Presseerkärung des Solikomitees für Sonja und Christian und der Roten Hilfe

Nach über zwei Jahren ist Sonja Suder heute Mittag freigelassen worden. Das Frankfurter Landgericht verurteilte sie zu 3 Jahren und 6 Monaten, der Haftbefehl wurde außer Vollzuggesetzt, – wegen der Beteiligung an drei Brandanschlägen in den 1970er Jahren. Das Gericht folgte damit weitgehend der Forderung der Staatsanwaltschaft.

Für den Vorwurf der Beteiligung am Angriff auf die OPEC-Konferenz 1975 in Wien wurde Sonja freigesprochen, da den Beschuldigungen des Kronzeugen Hans-Joachim Klein nicht geglaubt werden konnte. Den Kronzeugen will sich das Gericht mit dem Urteil aber warmhalten; seine Lügen wurden ausschließlich seinem fehlenden Erinnerungsvermögen zugeschrieben. Das Gericht legte Wert darauf, festzustellen, dass Klein keinesfalls bewusst die Unwahrheit sage. Auf diese Weise kann ihr Kronzeuge auch in etwaigen zukünftigen Verfahren wieder nach Bedarf verwendet werden.

Richtungsweisend für zukünftige Verfahren ist auch, dass das Gericht die Verwertbarkeit der Folterprotokolle, die 1978 von Hermann F. abgepresst worden waren, mit diesem Urteil ein weiteres Mal festschreibt: Die seitens der Gutachter_innen der Verteidigung bezeugte Traumatisierung von Hermann F., die eine Nichtverwendbarkeit seiner damaligen Äußerungen zur Folge gehabt hätte, wurde vom Gericht verneint. Auch in Zukunft können u
nter Folter gewonnene Aussagen damit juristisch verwertet werden.

Wir freuen uns, Sonja mit über 100 Leuten am Haupteingang des Gerichts mit Sekt und Musik in Empfang genommen zu haben.

Freiheit für alle politischen Gefangenen!

Frankfurt, 12. November 2013
Solikomitees für Sonja und Christian / Rote Hilfe