Artikel vom Eichhörnchen aus der Zeitschrift Graswurzelrevolution 453, November 2020
Mit dem durch @kaylejh auf Twitter ins Leben gerufenen Hashtag #AbleismTellsMe machen Menschen seit dem Sommer 2020 in sozialen Netzwerken verstärkt auf das Thema Ableismus aufmerksam. Doch, was ist eigentlich „Ableismus“? Was ist damit gemeint?
„Anders als Strukturen wie Rassismus oder Sexismus ist Ableismus in Deutschland als Begriff in weiten Teilen der Öffentlichkeit noch unbekannt“, schreibt zutreffend Tanja Kollodzieyski in ihrem bei Sukultur veröffentlichten Heft „Ableismus“. Auch jetzt beim Schreiben merke ich: selbst mein Schreibprogramm „LibreOffice“ kennt das Wort nicht, ich muss es dem Wörterbuch neu hinzufügen.
Tanja Kollodzieyski fährt fort: „Wenn er [der Begriff] aber doch auftaucht, wird er oft mit ‚Behindertenfeindlichkeit‘ übersetzt. Das ist problematisch da Behindertenfeindlichkeit lediglich einen Teil des Spektrums von Ableismus darstellt. Ableismus wird im Wesentlichen von zwei Seiten bestimmt. So beschreibt er auf einer Seite eine gewisse wahrnehmungs- und Erwartungshaltung von nicht-behinderten Menschen gegenüber behinderten Menschen. Feindliche Gesinnung kann ein Teil davon sein, muss es aber nicht. Es geht darum, wie nicht-behinderte Menschen das Leben von Menschen mit Behinderung bewerten; welche Bilder und Stereotypen sie im Kopf haben, wenn sie an behinderte Menschen denken. […] Auf der anderen Seite hängt Ableismus stark davon ab, wie breit unser Verständnis von Normalität ist. In Deutschland etwa haben wir eine Norm, die Menschen mit Behinderung nicht berücksichtigt.“
Das Wort „Ableismus“ kommt vom englischen „to be able“ ; „fähig sein“. Ich spreche das Wort aber auch gern phonetisch „deutsch“ aus. Weil es dann wie „ablehnen“ klingt. Also aufzeigt, wie die Gesellschaft Menschen mit Behinderung kategorisiert und ablehnt.
Betroffene nennen unter dem Haschtag #AbleismTellsMe zahlreiche Beispiele von ableistischen Situationen und Verhaltensweisen:
Sicht der Gesellschaft auf Menschen mit Behinderung
#AbleismTellsMe, dass ich mehr sein muss. Entweder besonders mutig, laut, klug… Oder mindestens besonders mitleiderregend. Einfach nur ich sein reicht nicht.
@RolliFreaulein
#AbleismTellsMe, dass man grundsätzlich überall zuerst mit meinen Eltern oder Freund*innen spricht, wenn es eigentlich um mich geht
@scheoneAndrea
#AbleismTellsMe, dass sich weitere Forderungen nach Teilhabe und Barrierefreiheit nicht gehörten, weil es den Behinderten heute doch schon sehr viel besser ginge als früher.
@JuleStinkesocke
#AbleismTellsMe, „Teilhabe für alle ist zu teuer“
@theRosenblatts
#AbleismTellsMe, dass der traditionelle, schöne Tagungsort wichtiger ist, als mir eine selbstbestimmte Teilhabe zu ermöglichen.
@GesaCTeichert
Euer #AbleismTellsMe, dass ich ein fiktiver Zwerg, ein Gnom, ein Liliputaner bin, kein kleinwüchsiger Mensch mit Bedürfnissen, Träumen und Rechten. Und wenn ihr schon lest: Nein, heimliches Fotografieren von Kleinwüchsigen ist nicht ok! Und nein, auch kein Selfie gegen Geld!
@RollerUndIch
#AbleismTellsMe wenn Menschen merken, dass der Erwerb der Gebärdensprache, genauso wie jede andere Sprache auch, mit Arbeit verbunden ist und sagen: „Könnt ihr die Sprache nicht für uns einfacher machen? Das ist so anstrengend zu lernen. Das muss einfacher gemacht werden.“
@LelaFinkbeiner
Gestern zufällig mitgehört: 2 Personen machen Selfies mit Handy: „Ach nö, löscht das mal, ich gucke da voll behindert“ #AbleismTellsMe ableistische Verwendung vom Begriff „behindert“ in der Alltagssprache v Menschen ohne #BehinderungIch habe die 2 Menschen gebeten ihre ableistische Verwendung des Begriffs „behindert“ zu überdenken. Daraufhin wurde gegrinst. #AbleismTellsMe Deren Reaktion war vielleicht Überforderung, weil sie meine Kritik nicht verstanden?
@HoernchenCecile
und weil Menschen ihre Kritik nicht verstanden, erläutert sie diese:
Das Wort „behindert“ wie hier als Synonym für „Scheiße aussehen“, weil man beim Selfie etwas schief geguckt hat, zu verwenden, geht für mich nicht klar. Verwendung des Begriffes mag nicht bewusst ableistisch gewesen sein, sie ist es trotzdem. Deshalb sollte dies hinterfragt werden
Der Kampf mit Ämtern und Behörden
#Hilfsmittel Versorgung bei #Behinderung #AbleismTellsMe Betroffene müssen Monate lang drum kämpfen / warten als wäre gesundheitlichen Beschwerden und Schmerzen nicht genug.
@HoernchenCecile
#AbleismTellsMe, dass ich 25 (FÜNFUNDZWANZIG) Seiten Formular ausfüllen und Kopien, Kostenvoranschläge und Co zusammensuchen muss, damit jemand überhaupt erstmal prüft, ob ich das Recht auf Leistungen zur Teilhabe hab.
#AbleismTellsMe, dass ich kein Recht auf Privatsphäre mehr habe, sobald ich Leistungen zur Teilhabe in Anspruch nehmen möchte.
@ein_fledertier
#AbleismTellsMe wenn #Polizei mich anhält, weil ich mit #Rollstuhl auf der Fahrbahn fahre und Polizei nicht verstehen will, dass es so kommt, weil Gehsteigkante nicht abgesenkt ist (Rollstuhl steigt Treppen nicht), also nicht #barrierefrei und… doofes Auto auf Gehsteig falsch parkt
@HoernchenCecile
Arbeitsmarkt
#AbleismTellsMe, dass ich „zu jung bin um krank und behindert zu sein“ . #AbleismTellsMe, dass ich mich einfach mehr anstrengen muss, damit ich eine Arbeit bekomme.
@audifono81
#AbleismTellsMe: die Arbeit in Behindertenwerkstätten ist weniger als 12 €/h wert (Mindestlohn).
Kritisiert @MartinBeesk die Ausbeutung von Menschen mit Behinderung und die geringe Wertschätzung ihrer Arbeit in österreichischen Werkstätten.
„Letzten Endes ist es die Laute, hartnäckige und sehr klar Missstände aufzeigende Behindertenbewegung, die Fortschritte bewirkt, und nicht Gefälligkeit und Stilles über sich ergehen lassen“, schreibt Tanja Kollodzieyski in ihrer Broschüre.
Ableismus ist genauso wie Rassismus und Sexismus im Alltag, aber auch innerhalb von linken emanzipatorischen politischen Bewegungen, zu bekämpfen!
Eichhörnchen, GWR 453
Broschüre „Ableismus“ von Tanja Kollodzieyski, ISBN 978-3-95566-125-0