GWR Filmbesprechung von Mara Nothers, im Rhamen des Schwerpunkte Ableismus GWR453
Crip Camp: A Disability Revolution, USA 2020, Buch und Regie: James LeBrecht, Nicole Newnham, Netflix, 108 Min., Englisch mit deutschen Untertiteln, keine Altersbeschränkung. (Link zum Film)
Ein Dokumentarfilm über ein Sommercamp für Jugendliche mit Behinderung, das zum Ausgangspunkt einer Bewegung wird. Die Jugendlichen selbst haben gefilmt, wie sie sich im Sommer 1971 auf dem Woodstock ähnlichen Camp Janed treffen, gemeinsam eine gute Zeit haben und selbst ermächtigen. Es bleibt nicht bei einem Feriencamp. Die Inklusivität, die jungen Leute im Camp erlebt haben, fordern sie in der gesamten Gesellschaft und das mit radikalen Mitteln, wie der Besetzung eines Regierungsgebäudes.
Ein Bus voller Jugendlicher mit verschieden Behinderungen kommt bei Camp Jened an, viele können nicht laufen und werden herausgetragen. So beginnt der Sommer in Camp Janed für eine Gruppe Jugendlicher, zu denen auch James LeBrecht gehört, der Co-Regisseur des Films. Hatten die Jugendlichen bis dahin vereinzelt unter alltäglichen Ausgrenzungen und Diskriminierungen gelitten, so treffen sie jetzt Andere, die ihre Erfahrungen teilen. Corbett O`Toole, die lange versuchte, ihr Humpeln zu verbergen, sagt: „Ich habe nicht bemerkt, wie groß die Bürde war, bis ich Menschen traf, vor denen ich mich nicht verstellen musste.“ Die jungen Leute hören einander zu und erkennen, dass ihre Probleme nicht individueller, sondern gesellschaftlicher Natur sind. Vor allem haben sie einen schönen Sommer. Die Stimmung auf dem Camp ist wie in Woodstock, die Betreuer*innen sind „keine Baybysitter“. Es wird Musik gemacht, geraucht, Baseball gespielt, es gibt Blumen im Haar, Liebesgeschichten und Filzläuse.
Was dann kommt erstaunt jeden, der sich von der Sommercamp-Atmosphäre hat einlullen lassen.
Die „Krüppel“ nehmen den politischen Kampf auf.
Als Präsident Nixon 1973 den Rehabilitation Act – welcher Diskriminierung aufgrund von Behinderung in allen staatlich finanzierten Einrichtungen verbietet – mit einem Veto verhindern will, mit der Begründung, die Umsetzung sei zu teuer, blockieren die DIA [Disabled in Action] eine Kreuzung vor Nixons Hedquarter. „What do we want? Civil right! When do we want it? Now!“, skandieren sie.
Zentral im Disability Rights Movement ist einer Gruppe Freund*innen, die sich in Camp Jened kennen gelernt hat. Zu ihnen zählen unter anderen die Protagonist*innen Judith Heumann, Denise Jacobson und James LeBrecht. Im Camp haben sie sich vernetzt, Vertrauen aufgebaut und sie haben erfahren, dass eine bessere Welt möglich ist, für die es sich zu kämpfen lohnt.
Nixon gibt dem Druck nach und unterschreibt den Act, tut aber nichts für die Umsetzung.
Die Bewegung begnügt sich nicht damit Forderungen an die Regierung zu stellen, im „Center for independent Living“ leben Menschen mit Behinderung zusammen und probieren im Kleinen, was später überall verwirklicht werden soll. Sie organisieren ihre Betreuungspersonen und bauen elektrische Rollstühle.
Im Kampf um die Implementierung des Abschnitts 504 des Rehabilitation Acts, besetzen die Aktivistinnen spontan das zuständige Regierungsgebäude. Menschen die nicht gehen können, sich nachts nicht selbstständig drehen können belagern die Flure eines Regierungsgebäudes, die Black Panthers kochen solidarisch Mahlzeiten. Eine Aktivistin sagt: „Wir haben es mit dem Weißen Haus aufgenommen.”
Genaugenommen hat der Filmdreh 1971 während des Feriencamps begonnen. Die Jugendlichen haben sich selbst gefilmt und interviewt, alte Aufnahmen mischen sich mit aktuellen Interviews der Protagonist*innen. Die Filmmusik erinnert an Woodstock.
„Als wir in Jened waren, gab es den Disability Act noch nicht“, sagt einer der Campbetreuer, „Wenn wir mit den Campern in die Eisdiele gehen wollten, kamen wir nicht durch die Tür, sie wollten uns dort nicht, weil die Kunden sich wegen uns unwohl fühlten.“
Der Film hat keine Angst davor, Menschen mit verschiedenen Behinderungen zu zeigen. Die Kamera hört ihnen geduldig zu und der Lohn ist groß. Wir sehen die Jugendlichen vom Camp Jened aus ihrer eigenen Perspektive, nicht bemitleidend oder beschönigend, sondern ehrlich, gesellschaftskritisch und konstruktiv.
Den Film angesichts der dokumentierten und heute fortbestehender Diskriminierung von Menschen mit Behinderung als „Feel good Film“ zu bezeichnen erscheint nicht ganz passend, doch es ist durchaus ein positiver Film. Die Protagonist*innen bleiben nicht als hilfsbedürftige, sondern als selbstbewusste, kämpferische Vorbilder in Erinnerung, auch für valide Menschen. Es ist ein Film, der Mut macht für ein besseres Leben für alle zu kämpfen.