* fragwürdiger Umgang des Gerichts mit geladenen Zeugen
* Angeklagten machen der Atomindustrie den Prozess
* Fortsetzung: 22. Juni, 13. und 20. Juli 2017 jeweils um 10 Uhr vor dem LG Stralsund
Der Prozess gegen zwei Atomkraftgegner, denen vorgeworfen wird, 2011 einen Castortransport zum Zwischenlager Lubmin mit einer Ankettaktion blockiert zu haben, wurde am Donnerstag 1. Juni 2017 vor dem Stralsunder Landgericht fortgesetzt. Der Tag begann – wie schon am ersten Verhandlungstag eine Woche zuvor – mit einer bunten Demonstration vom Hauptbahnhof zum Landgericht. Die vorsitzende Richterin was an diesen Tag offensichtlich schlecht gelaunt.
Sie begann mit der Verhandlung vor Erscheinen eines der beiden Angeklagten, obwohl er sich nur geringfügig verspätete und die Verhandlung ohne ihn eigentlich gar nicht statt finden darf. Die Richterin rief die geladenen Zeugen hinein und belehrte sie über ihre Pflichten als Zeuge – nicht jedoch über ihre Rechte. Das Gericht machte im Umgang mit den Zeugen einen recht unsouveränen unprofessionellen Eindruck. Einer Journalistin, die nach eigenen Angaben vorab telefonisch nachgefragt hatte, ob sie aussagen müsse und um eine Abladung gebeten hatte, hatte die Richterin gesagt, sie sei verpflichtet auszusagen. Als vor der Vernehmung der Zeugin die Verteidigung auf den § 53 Abs.5 StPO, das das rechts von Berufsgeheimnisträger*innen, die Aussage zu verweigert regelt, hinwies, schien die Vorsitzende die Regelung nicht zu kennen. Als die Journalistin im Zeugenstand erneut erklärte, die Aussage verweigern zu wollen, wurde die Sitzung für 45 Minuten unterbrochen. Es wurde sodann ein Beschluss verkündet, den das Gericht sofort hätte formulieren können, hätte sich die Vorsitzende über die Rechtslage vorab informiert. Journalisten haben als Berufsgeheimnisträger*innen ein umfassendes Aussageverweigerungsrecht.
Als weiterer Zeuge war ein Aktivist geladen, der an der Gleisdemonstration als Vertrauensperson der Menschen im Gleisbett teilgenommen hat. Er erklärte, die Aussage verweigern zu wollen, um sich selbst nicht zu belasten. Schließlich habe er vom Füttern-Prozess gegen eine Atomkraftgegnerin in Hamburg gehört. An der Tatsache, dass dort eine Person allein deshalb verfolgt wird, weil sie bei einer Gleisdemonstration eine an der Schiene festgekettete Demonstrantin mit Lebensmittel versorgt haben soll, beweise, dass er selbst angeklagt werden könne. Die Verhandlung wurde zur Klärung, ob gegen den Zeugen ein Ermittlungsverfahren noch läuft, unterbrochen. Dies wurde anschließend durch die Staatsanwaltschaft verneint, es konnte jedoch nicht geklärt werden, ob gegen den Zeugen bei der Staatsanwaltschaft Potsdam noch ein Ordnungswidrigkeitsverfahren anhängig ist. Dies soll außerhalb der Verhandlung geklärt werden. Sollte de Zeuge kein Aussageverweigerungsrecht haben, wird er zum 13. Juli erneut geladen. Als sich abzeichnete, dass die Zeugenvernehmung nicht wie vom Gericht geplant abliefen, wurden weitere Verhandlungstage festgelegt. Der Prozess soll demnach am 22. Juni, 13. und 20. Juli jeweils um 10 Uhr vor dem Landgericht Stralsund fortgesetzt.
Die Verteidigung stellte im Anschluss an die Nicht-Zeugenvernehmungen Beweisanträge. Diese bezogen sich auf die Tatbestandsmerkmale der Nötigung und der Störung öffentlicher Betriebe sowie auf die Gefahren der Atomkraft im Hinblick auf die Verwerflichkeit einer Nötigungshandlung, die Schuldfrage und den rechtfertigenden Notstand.
„Das Gericht nahm die Anträge regungslos entgegen. Es sollte sich doch für die kostenlose Weiterbildung zu den Gefahren der Atomkraft bei uns bedanken. “, witzelte eine Prozessbeobachterin im Anschluss.
Eine Entscheidung über die Beweisanträge wird am nächsten Prozesstag den 22. Juni verkündet. Mal sehen wie das Gericht die Beweggründe der Aktivist*innen wertet. Aus anderen Verfahren vor dem Landgericht Stralsund ist bekannt, dass es sich in der Auslegung erfinderisch und rechtschöpferisch zeigt und sich entgegen der Vorschriften inhaltlich politisch positioniert. So wurde schon mal die Gefährlichkeit der Castortransporte festgestellt, um die kriminelle Energie der Angeklagten zu belegen. Es sei kriminell gegen einen Atomtransport zu demonstrieren, wenn es zu Verzögerungen im Betriebsablauf führe. Der Transport sei auf Grund seiner Gefährlichkeit dringlich und müsse schnellstmöglich ins Zwischenlager Nord. Die Staatsanwaltschaft hat bereits am ersten Prozesstag die politische Dimension der Anklage betont. Das öffentliche Interesse an der Verfolgung der Aktivisten 6 Jahre nach der Tat (und nach einem Freispruch in erster Instanz) begründet sie mit der Allgemeinprävention. Eine Strafe sei erforderlich um die Allgemeinheit zu schützen. Wenn Nazis Anschläge durchführen, wird dies offensichtlich anders gesehen, wie ein Fall aus Koblenz aktuell zeigt.