Der jüngste Castortransport auf dem Neckar ist keine Woche her. Die Bilder der erfolgreichen Abseilaktionen an der Strecke sind haften geblieben. Die Aktivist*innen konnten mit ihren Aktionen und Botschaften eine große Öffentlichkeit erreichen. Solche Aktionen sind aber den Atomkonzernen und dem Staat, der sie bei der Durchsetzung ihrer Interessen mit großen Polizeieinsätzen unterstützt, ein Dorn im Auge. Die juristische Aufarbeitung solcher Einsätze dauert Jahre an.
Passend zu den jüngsten Castor-Protesten hat die als „Eichhörnchen“ bekannte ROBIN WOOD Kletteraktivistin Cécile Lecomte Post vom Bundesverfassungsgericht erhalten. Sie hatte gegen zwei Ingewahrsamnahmen anlässlich von Kletteraktionen gegen die Castortransporte zum Zwischenlager Nord nach Lubmin 2010 und 2011 geklagt und die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Freiheitsentziehungsmaßnahmen beantragt. Sie konnte sich vor dem Amts- und Landgericht nicht durchsetzen und reichte 2014 zwei Verfassungsbeschwerden beim Bundesverfassungsgericht ein. Das Bundesverfassungsgericht hat nun ihre Beschwerden zu Entscheidung angenommen und für offensichtlich begründet erklärt. Die angegriffenen Beschlüsse vom Landgericht Stralsund werden wegen einer Verletzung von Art. § 19 Absatz 4 Satz 1 Grundgesetz (Gebot effektiver Rechtsschutz) aufgehoben und zur erneuten Entscheidung an das Landgericht zurückverwiesen. (Aktenzeichen 2 BvR 1754/14 und 2 BvR 1900/14 )
Hintergrund
Zwei Castortransporte wurden im Dezember 2010 und Januar 2011 ins Zwischenlager Nord in Lubmin durchgeführt. Zahlreiche vielfältige Protestaktionen und ein großes Polizeiaufgebot begleiteten diese Transporte. Für große Schlagzeilen sorgte die Aktion von Aktivist*innen, die sich an einem Betonblock im Gleisbett festketteten und somit den Castortransport erheblich verzögerten.
Cécile Lecomte beteiligte sich im Dezember 2010 an einer Kletteraktion in Bäumen an der Bahnstrecke in Höhe Stillow Siedlung. Die ROBIN WOOD Aktivist*innen demonstrierten bei eisiger Kälte in den Bäumen und zeigten Transparente. Sie wurden durch eine Spezialeinheit der Bundespolizei aus den Bäumen herunter geholt und in Gewahrsam genommen.
Im Februar 2011 scheiterte eine weitere Kletteraktion an der polizeilichen Überwachung. Die gesamte Aktionsgruppe sowie zwei sie begleiteten Journalisten wurden präventiv festgenommen. Dies ist im Film « Die Protestmacher » von Protestforscher Dieter Rucht dokumentiert.
Juristische Auseinandersetzung
Die Aktivist*innen beantragten eine gerichtliche Überprüfung ihrer Ingewahrsamnahme. Ihr Gewahrsam von 2010 wurde durch das Amts- und das Landgericht für teilweise rechtswidrig erklärt. Der Gewahrsam von Februar wurde für rechtmäßig erklärt. Cécile Lecomte gab sich damit nicht zufrieden und reichte Verfassungsbeschwerde ein. Sie rügte die Verletzung des rechtlichen Gehörs und des Gebotes effektiver Rechtsschutzes sowie ihrer Grundrechten auf Versammlung- und Meinungsfreiheit.
Sie führte ihre Klage selbst, weil das Bundesverfassungsgericht ihr mit der Begründung, sie sei in der Lage ihre Rechte selbst zu verteidigen und juristisch zu argumentieren, die Bewilligung von Prozesskostenhilfe verweigerte – obwohl die Bundesregierung, die in dem Verfahren umfangreich Stellung nahm, sich durch eine Großkanzlei vertreten lies. Diesen Umstand war Gegenstand einer kleinen Anfrage an die Bundesregierung (Drucksache 18/10169). Es wurde nach den Kosten dieser Stellungnahme gefragt. Die Bundesregierung mauerte jedoch zu und erklärte die Rechnungen zum Geschäftsgeheimnis. Cécile Lecomte reichte daraufhin eine Klage nach dem Informationsgesetz ein. Diese Klage ich noch beim Verwaltungsgericht Berlin anhängig. Nach vorläufigen Würdigung durch das Gericht hat die Klage Aussicht auf Erfolg.
Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes
Die Bundesregierung verteidigte über die Großkanzlei die Maßnahmen der Polizei in einer 55-seitigen Stellungnahme. Dies überzeugte das Bundesverfassungsgericht allerdings nicht. Aus der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes ist zu entnehmen: „Das Landgericht hat durch die Art und Weise seiner Befassung mit dem Rechtsschutzbegehren der Beschwerdeführerin das Gebot effektiven Rechtsschutzes verletzt. Es hat […] das Vorbringen der Beschwerdeführerin nicht ausreichend berücksichtigt und seine Entscheidung auf eine nicht tragfähige Würdigung gestützt.“
Über andere Grundrechtsverletzungen hat das Bundesverfassungsgericht nicht entschieden, weil es für die Aufhebung des Beschlusses nicht mehr darauf ankam. Das Landgericht muss nun den Fall erneut prüfen und den Vortrag der Beschwerdeführerin berücksichtigen. Cécile Lecomte rechnet nun mit einem positiven Beschluss des Landgerichtes: „Wenn das Landgericht die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtes berücksichtigt, muss es zum Ergebnis kommen, dass meine Ingewahrsamnahmen rechtswidrig waren. Mein Fall zeigt: Die Atompolitik ist gegen den Willen der Menschen nicht ohne Grundrechtsverletzungen durchzusetzen. Wer seine Rechte verteidigen will, braucht langem Atem!“
Im strafrechtlichen Sinne sind die juristischen Auseinandersetzungen um den Lubmin Castor auch nicht vorbei – Cécile Lecomte ist derzeit vor dem Landgericht Stralsund aktiv – als Strafverteidigerin. Sie verteidigt einen Aktivisten, der auf Grund einer Ankettaktion bei Ribnitz Dammgarten gegen den Castortransport von Februar 2011 vor Gericht steht. Der 4. Prozesstag steht am 13. Juli an.
Weitere Informationen
* Beschluss des Bundesverfassungsgerichtes Aktenzeichen 2 BvR 1754/14: http://eichhoernchen.ouvaton.org/docs/rep/BverfG/2_BvR_1754_14-a.pdf
* Beschluss des Bundesverfassungsgerichtes Aktenzeichen 2 BvR 1900/14: http://eichhoernchen.ouvaton.org/docs/rep/BverfG/2_BvR_1900_14-a.pdf
* Bericht über die Kletteraktion von Dezember 2010: http://de.indymedia.org/2011/01/298013.shtml
* Zur Protestaktion von Februar 2010 hat Cécile Lecomte eine Kurzgeschichte in ihrem Buch „Kommen Sie da runter!“ im Verlag Graswurzelrevolution ( ISBN 978-3-939045-23-6 ) veröffentlicht: http://www.graswurzel.net/verlag/eichhoernchen.php
* Prozesskostenhilfebeschluss des Bundesverfassungsgerichtes: http://blog.eichhoernchen.fr/post/Das-Bundesverfassungsgericht-und-die-Waffengleichheit und http://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2016/08/rk20160811_2bvr175414.html
* Auseinandersetzung um die Veröffentlichung der Rechnung der von der Bundesregierung beauftragten Kanzlei (Az. VG 2 K 50.17 VG Berlin): http://blog.eichhoernchen.fr/post/Geheimniskramerei-von-Bundesregierung-und-kanzlei und https://fragdenstaat.de/anfrage/anwaltsrechnungen-in-einem-streit-vor-dem-bundesverfassungsgericht-1/ ; Kleine Anfrage an die Bundesregierung Drucksache 18/10169 http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/18/103/1810338.pdf
* Aktueller Berufungsprozess gegen zwei Castorgegner vor dem Landgericht Stralsund: http://lubminnixda.blogsport.de/
* ROBIN WOOD Kletteraktion beim jüngsten Castortransport auf dem Neckar am 28. Juni 2017: https://www.robinwood.de/pressemitteilungen/atomm%C3%BCll-verhindern-statt-verschieben
* Pressemittelung von ROBIN WOOD zu den gewonnen Verfassungsbeschwerden