Eichhörnchen-Artikel, erschienen in der Monatszeitschrift GWR Nr. 369 Ausgabe Mai 2012.
Baumbesetzung, Strommast-Abschraube-Aktionen und vieles mehr
« Wenn die aktiven Umweltaktivisten, die heute gegen die Atomkraft kämpfen, später auf die Idee kommen, die Hochspannungsleitungen zu bekämpfen, ist anzunehmen, dass die Situation ernst wird. Atomkraftwerke können mit Hilfe von Stacheldraht und wenn notwendig der Bereitschaftspolizei abgeschottet werden. Für die Strommasten gilt dies aber nicht“, hieß es in einem als vertraulich eingestuften geheimen Dokument vom französischen staatlichen Elektrizitätswerk EDF aus dem Jahr 1983.
Genau dies passiert heute. Die Baumbesetzung dauert an!
In die deutsche Berichterstattung hat die Nachricht den Sprung bislang nicht geschafft. Von Bedeutung für die französische Antiatombewegungen ist sie aber. Seit dem 29. März besetzt gut ein Dutzend AktivistInnen in Le Chefresne (Nieder-Normandie bei Coutances) Bäume, die an jenem Tag für eine neue Hochspannungsleitung gefällt werden sollten. Die Hochspannungsleitung geht mit dem Bau des EPR-Atomreaktors in Flamanville an der Küste einher. Die Baumbesetzung dauert an und die AktivistInnen stellen sich auf eine lange kämpferische Besetzung ein. Währenddessen gehen die Protestwanderungen an der geplanten Trasse sowie die Abschraube- und Sabotageaktionen an den sich im Bau befindlichen Strommasten weiter.
Ein Kristallisierungspunkt des Antiatom-Widerstandes gegen die Neubaupolitik der Regierung sind die Stromtrassen schon seit einigen Jahren. „Lutte anti-THT“ heißt es im Französischen. THT steht für Hochspannungsleitung (HSL).
In Flamanville an der Küste bei Cherbourg in der Nieder-Normandie befindet sich seit einigen Jahren ein neuer „EPR-Reaktor“ im Bau.
Baustellenbesetzungen hat es auch in der Vergangenheit gegeben, es ist aber nicht einfach einen Standort zu besetzen, wo schon Atomreaktoren stehen, und der bereits eingezäunt und stark überwacht ist. Die AktivistInnen haben früh auf den Protest gegen die damit einhergehende Hochspannungsleitung gesetzt.
Ich erinnere mich noch gut an die erste Hochspannungsmastbesetzung in Flamanville 2007. Ich beteiligte mich spontan daran, als mich FreundInnen einluden, die über meine Kletterfähigkeiten Bescheid wussten. Beteiligung und Erfahrungsaustausch (Klettertechnik) sind wichtig im Widerstand. Es folgten weitere Besetzungen und zahlreiche Gerichtsverhandlungen.
Wir besetzten damals den Strommast einer bestehenden Trasse. Symbolisch, als Zeichen der Entschlossenheit für die kommenden Jahren. Heute ist es ernst geworden: die Hochspannungsleitung Cotentin-Maine befindet sich seit Dezember 2011 im Bau. Und der Widerstand hat sich dorthin verlagert. In unserem Prozess wegen Strommastbesetzung vorm Tribunal de Grande Instance in Cherbourg im Juni 2009 ließen wir Jean-Claude Bossard als Zeuge laden, zum Beweis der Unvereinbarkeit von Demokratie und Atomkraft. Jean-Claude Bossard ist Oberbürgermeister der commune du Chefresne und hat in dieser Funktion die Kooperation mit den Genehmigungsbehörden im Planfeststellungsverfahren – die Genehmigung der Trasse stand im Voraus fest – abgelehnt und eine Verfügung gegen den Bau der HSL auf kommunalem Grund erlassen. Diese Verfügung wird von Paris schlicht ignoriert, Polizei und Armee rücken nun vor.
Am 29. März besuchte Jean-Claude Bossard die BaumbesetzerInnen im Wald von le Chefresne. Dort haben sie sich in den Bäumen in Hängematten und auf Plattformen verschanzt. Der Wald steht der neuen Trasse im Weg und sollte an jenem Tag gefällt werden. Die Aktion der AtomkraftgegnerInnen überraschte die Polizei. Ca. 80 Beamte der Militärpolizei in voller Kampfmontur, etliche Polizeifahrzeuge und zwei Armeefahrzeuge konnten die AktivistInnen ausmachen. Sie begleiteten Baumfällarbeiter und Vermessungsbeamten im Auftrag des staatlichen Stromnetzunternehmens RTE (Réseau de transport d’électricité). Sie hatten mit Widerstand der Bevölkerung gerechnet und waren darauf eingestellt. Doch gegen die AktivistInnen in luftiger Höhe blieben sie ohnmächtig. Nach wenigen Stunden traten sie den Rückzug an.
Eine Räumung innerhalb der darauf folgenden Tage wurde zunächst befürchtet. Seit dem 1. April ist die Situation mit Beginn der Vegetationsperiode entspannter geworden, auch wenn die Polizei weiterhin im Hintergrund Präsenz zeigt und das Geschehen beobachtet. Wachsam bleiben die DemonstrantInnen auf jeden Fall. Es ist nicht gesagt, dass sich RTE an geltende Gesetze hält und bis zum nächsten Herbst wartet. Eine Sondergenehmigung für die Fällungen ist auch nicht ausgeschlossen.
Der Widerstand fühlt sich durch die Aktion gestärkt und geht in die Offensive. Im Internet kursieren Unterstützungsaufrufe, Aktions- und Veranstaltungsankündigungen. Die BaumbesetzerInnen befestigen ihr Widerstandcamp und freuen sich sowohl über neue MitbewohnerInnen als auch über Materialunterstützung für ihre geplanten Baumhäuser. Am 15. April fand eine Vollversammlung der Initiativen und Gruppierungen gegen die HSL-Trasse in le Chefresne statt. Die Meldungen über weitere Aktionen des zivilen Ungehorsams reißen indes nicht ab. Oberbürgermeister weigerten sich, mit den Behörden im Rahmen des Planfeststellungsverfahrens Anfang März zu kooperieren und erhielten Mahnungen aus Paris. SpaziergängerInnen blockieren immer wieder die Bauarbeiten vor Ort.
Plakate rufen zu Sabotageaktionen auf. Die „actions de déboulonnage“ sind sehr beliebt: Strommasten, die sich noch im Baum befinden, werden abgeschraubt. In La Bazoge kippten Unbekannten Säure in die Tanks von Baustellenfahrzeugen hinein. Der Bau soll dadurch behindert und verzögert, der Widerstand sichtbar gemacht werden. Reibungen und Streit über Aktionsformen gibt es wenig. Bei keiner dieser Aktionen wurden Menschen gefährdet. Viele sind der Meinung, dass die verschiedenen Formen des Widerstandes sich ergänzen.
Eichhörnchen
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