Ich veröffentliche heute ein in der Zeitschrift Graswurzelrevolution erschienenes Artikel über den Tod von Rémi Fraisse Ende oktober bei einer Demonstration gegen ein Staudammprojekt in Süd-Frankreich. Ich finde der Text trifft das Geschehen gut.
Derweil geht der Protest gegen das Staudammprojekt in Südfrankreich weiter. Die zad (zone à défendre , zu verteidigende Zone) lebt weiter. Seit dem Tod von Rémi ruhen die Baurabeiten. Die Regierung hat darüber hinaus ein temporärer Verbot von offensiven Grananten ausgesprochen. Man fragt sich aber für wie lange? Und es betrifft nur die offensiven Granaten der Gendarmerie, es wird beispielsweise weiter mit Splittergranaten auf die Menschen geschossen.
Ach und eine aktuelle Nachricht noch: es gibt nun eine weitere zad. Nach der zad in Nantes (gegen Flughafenbau), in le Testet (Staudammbau, wo Rémi ums Leben gekommen ist) git es nun in Roybon eine zad. Dort richtet sich der Protest gegen die Abholzung von ca. 120 Hektar Wald in einem Feuchtgebiet. « Pierre et Vacances » , ein Tourismusunternehmen, will alles zubetonieren um ein « Center Parc » einzurichten. Der Wald wird nun besetzt und die Bauarbeiten gestört. Es gibt einen Bericht zum Beginn der Besetzung auf Deutsch hier. Die AktivistInnen haben natürlich eine Hompeage auf Französisch.
Und im RWE-Land, im Hambacher Forst wurde eine Besetzung an der Rodungskante diese Woche geräumt.
An dieser Stelle Soligrüße an alle AktivistInnen, die überall für eine bessere Welt, für den Schutz der Umwelt kämpfen! Der Widerstand geht – trotz Polizeigewalt – weiter!
Gedanken zum Mord an Rémi Fraisse
Artikel von Pierre Michel, erschienen in der Zeitschrift Graswurzelrevolution 394, Dezember 2014
In der Nacht vom 25. auf den 26.10.2014 sitzt ein ruhiger junger Mann, der seine Locken zu einem Zopf zusammengebunden hat, zusammen mit einigen anderen Aktivist_innen am Lagerfeuer des Protestcamps gegen den Staudamm von Sivens in Südwestfrankreich. Der Name des 21 Jahre jungen Mannes ist Rémi Fraisse und er diskutiert mit den anderen die Frage, ob es sinnvoll ist, der Gewalt und Zerstörung, die Staat und Kapital anrichten, mit Gegengewalt zu begegnen.
Rémi ist in die Kämpfe gegen den etwa 300 Meter langen Damm involviert, der seit Anfang September gebaut wird. Der Damm soll den Fluss Tescou stauen, um die Bewässerung der ungefähr 30 dort ansässigen agrarindustriellen Großbetriebe zu sichern. Dafür soll ein geschütztes Feuchtgebiet von 20 Hektar Größe geopfert werden. Die Kosten für das Mammutprojekt von über 8 Millionen Euro trägt die öffentliche Hand, die Agrarindustrie wird nicht zur Kasse gebeten. Zwar kam eine Untersuchung, die vom französischen Umweltministerium in Auftrag gegeben wurde, zu dem Schluss, dass die Kosten und die Umweltzerstörung womöglich doch unterschätzt wurden. Gleichzeitig verkündete der Bericht aber auch, dass es nun zu spät sei, den Bau noch zu stoppen. „Angesichts der schlechten Argumentationslage haben sich die Autoritäten dazu entschieden das Vorhaben mit Druck durchzusetzen“, stellt das Kollektiv zur Rettung des Testet fest. Nachdem argumentativ kein Stopp des Baus erreicht werden konnte, kam es zur Besetzung des betroffenen Waldstückes durch Naturschutzaktivist_innen. Diese Besetzung wurde mit mehreren hundert Polizist_innen geräumt, um mit dem Bau zu beginnen. So gründete sich ein neues Kollektiv, die „Bouilles“, die mit dezidiert gewaltfreien Mitteln, wie dem Erklettern von Bäumen oder dem Eingraben auf den von den Maschinen genutzten Wegen, gegen das Projekt protestieren.
In dieser Situation kam es, wie schon oft zuvor, am 25.10. zu einer Großdemonstration gegen den Bau, an der sich ungefähr 7000 Leute beteiligten. Die Organisator_innen hatten zu gewaltfreien Protesten aufgerufen und die Anwesenden darum gebeten, sich nicht durch die Gewalt der Polizei, die in der Vergangenheit bereits brutal gegen die Proteste vorgegangen war, provozieren zu lassen.
Der Präfekt hatte zuvor versichert, am Tag der Demonstration auf die Präsenz von Polizeieinheiten im Wald zu verzichten, zumal sich dort am Wochenende keinerlei Maschinen oder Arbeiter_innen befanden. Trotzdem waren 250 Aufstandsbekämpfungspolizist_innen der auf der Baustelle verschanzt. „Der einzige Grund, der die übermäßige Anwesenheit von Sicherheitskräften in Sivens an diesem Tag rechtfertigt, ist demnach der Wille der Regionalverwaltung die Situation an diesen zwei Demonstrationstagen eskalieren zu lassen“, heißt es von Mitgliedern des Koordinationskreises für die Mobilisierung gegen den Staudamm.
Darüber diskutieren Rémi und seine Mitstreiter_innen nach der Demonstration am Lagerfeuer wohl auch. Was haben die Gendarmen vor? Wie kann derartigen Provokationen begegnet werden? Rémi verteidigt in dieser Diskussion die Position, die er auch vorher stets vertreten hatte: Dass auf Gewalt gegen Personen verzichtet werden müsse. Wie genau die Diskussion ablief, wissen wir nicht, klar ist nur, dass sich Rémi gegen Mitternacht einer Gruppe anschließt, die gegen die Präsenz der Polizei vorgehen will. Im Gegensatz zu den meisten anderen Personen in dieser Gruppe, trägt er keinerlei Ausrüstung, um sich vor den Waffen der Aufstandsbekämpfungs-Einheiten zu schützen. Der genaue Verlauf der Ereignisse, die dann folgen, ist unklar. Jedenfalls kommt es zu einem Scharmützel zwischen den Polizist_innen und den Demonstrierenden, in dem erstere alle verfügbaren Waffen von Schlagstöcken über Tränengas bis hin zu Schockgranaten einsetzen.
Diese Schockgranaten werden von verschiedenen Armeen im Häuserkampf zur Stürmung von Räumen benutzt. Die Gendarmerie, die Landpolizei in Frankreich, ist organisatorisch und juristisch dem Militär angegliedert, sie untersteht sowohl dem Innen- als auch dem Verteidigungsministerium. Deshalb benutzt sie auch dieselben Waffen, die in militärischen Einsätzenbenutzt werden, d.h. Kriegswaffen. Der Einsatz dieser Kriegswaffen ist in Frankreich gegen Protestaktionen und Demonstrationen aller Art üblich, egal ob diese Gewalt anwenden oder nicht. Bei der Explosion dieser Granaten ist eine extrem laute Detonation von ca. 160 Dezibel zu hören. Bei einigen Granaten verteilen sich Gummigeschosse sowie Splitterteile aus Metall. Die Splitterteile der Granaten sollen Menschen verletzen und können sich mehrere Zentimeter in den Körper bohren, wobei auch Arterien oder Nerven getroffen werden können. Die operative Entfernung ist gefährlich, die Opfer müssen die Splitterteile deshalb oft im Körper behalten. Andere Granaten, wie die „grenade offensive sans éclats 410“, haben keine Splitterteile, die Wucht der Explosion kann aber zu schweren Verletzungen oder zum Tod führen.
Eine solche Granate ist es – dem TNT nach zu schließen, das an seiner Kleidung gefunden wurde – die Rémi an der Schulter trifft. Vermutlich ist er sofort tot. Seine Mitstreiter_innen können das aber nicht mit Sicherheit bestätigen, denn nachdem Rémi zu Boden geht, wird er von Polizist_innen hinter deren Reihen geschleift. Erst behaupten sie, er wäre wohl von seinen eigenen Mitstreiter_innen getötet worden, oder hätte in seinem Rucksack Sprengstoff getragen, der detoniert sei. Mittlerweile haben die Obduktionsberichte jedoch zweifelsfrei gezeigt: Rémi wurde am Sonntag, den 26.10.2014, ungefähr um zwei Uhr nachts von der Polizei ermordet.
In verschiedenen Städten in Frankreich kam es zu großen Spontandemonstrationen gegen diese ultimative Form der Polizeigewalt. „Die Angst muss die Seite wechseln“, hieß es. Viele Feuer brannten, Barrikaden wurden errichtet. Der Vater von Rémi hat inzwischen Anzeige wegen vorsätzlicher Tötung gegen einen unbekannten Vertreter der Staatsgewalt eingereicht. Im Fernsehen appellierte er in einer Stellungnahme auch an die Freund_innen und Mitstreiter_innen seines Sohns, ihrer Wut nicht mit Gegengewalt Ausdruck zu verleihen.
Von staatlicher Seite gab es außer noch mehr Repression tagelang überhaupt keine Stellungsnahmen zu Rémis Tod. Anfang November verbot Innenminister Cazeneuve vorläufig den Einsatz der Schockgranaten durch die Polizei. Gleichzeitig betonte er jedoch, dass solche Waffen „schon seit Jahrzehnten zur Aufrechterhaltung der Ordnung eingesetzt“ würden und „noch nie getötet“ hätten. Das ist eine Lüge. Bereits 1977 wurde Vital Michalon bei einer Antiatomdemonstration in Malville gegen den „Schnellen Brüter“ durch eine solche Schockgranate getötet.
Natürlich muss der Einsatz derartiger Kriegswaffen durch die Polizei umgehend unterbunden werden. Dabei darf es jedoch nicht darum gehen, sich an einer Diskussion zu beteiligen, die zwischen legitimer und illegitimer Polizeigewalt unterscheidet, nach dem Motto: Schlagstock okay, aber bitte keine Granaten. Straffreie Gewalt ist das zentrale Merkmal der Institution Polizei und sie darf in keiner ihrer Formen hingenommen werden. Unter dem erhobenen Polizeiknüppel ist kein freies Leben möglich, wie auch der Artikel von Michael Sturm in dieser Ausgabe zeigt.
Was den Staudamm betrifft, so kündigte der Generalrat des Départements Tarn an, dass der Bau vorübergehend unterbrochen werden solle. Das Projekt solle jedoch nicht ganz aufgegeben, sondern nur „verbessert“ werden.
Aber wie weiter von diesem Punkt aus?
Was sagen, was schreiben im Angesicht des Todes? Und vor allem: Was tun? „Wir stehen unter Schock“, schreiben die Aktivist_innen vom Koordinationskreis der Demonstration. Das Wichtigste ist wohl, sich von diesem Schock nicht paralysieren zu lassen. Das heißt nicht unbedingt, gleich irgendwelche Lehren aus ihr ziehen zu wollen, oder „das Beste daraus zu machen“.
Ein erster Schritt könnte stattdessen sein, die Situation erst einmal wahr zu nehmen. Das heißt, zu sehen, dass wir tatsächlich, nicht nur abstrakt, in einem System leben, das mordet und, dass davon alle, die Widerstand leisten, betroffen sein können. Dabei ist es offensichtlich egal, ob sie dabei Gewalt anwenden oder nicht. Das heißt aber auch, wahr zu nehmen, was diese Tatsache mit uns macht.
Der zweite Schritt könnte Solidarität sein. Unmittelbar heißt das, Solidarität mit den Betroffenen zum Ausdruck zu bringen, und zwar nicht nur in kämpferischen Phrasen, sondern auch in den stilleren, weniger heldenhaften Momenten von Trauer und Zweifel. Mittelbar kann das zum Beispiel heißen, in eigenen Zusammenhängen über Ängste zu sprechen, die aus der allgegenwärtigen Gefahr der Staatsgewalt resultieren, und einen kollektiven Umgang damit zu finden. Damit das gelingt, brauchen aktivistische Strukturen eine Kultur der Achtsamkeit, in der Platz ist für das Teilen von schwierigen Gefühlen. Damit eine solche Kultur greift, muss sie eingeübt werden, bevor es zum Notfall kommt.
Ein dritter Schritt wäre dann, der Wut über ein System Ausdruck zu verleihen, das über Leichen geht, um Profite abzusichern. Um eine Spirale von Gewalt zu verhindern, scheint es dabei sinnvoll, auf Gegengewalt zu verzichten. Auch wenn das Bedürfnis nach Rache nachvollziehbar ist und – zumal „von außen“ – moralisch kaum verurteilt werden kann, muss im Blick behalten werden, dass Gewalt ein Modus der Herrschaft ist und nicht zu einer freien Gesellschaft führen wird. Es gilt also, sich Gedanken zu machen, wie die Institutionen und Strukturen, die für den Tod von Rémi verantwortlich sind, zerstört werden können, ohne dass die Mittel in Widerspruch zu dem Ziel geraten.
Angesichts der in ganz Europa zunehmenden Repression ist dabei vor allem auch die Frage zentral, wie wir uns dabei vor den Repressionsorganen schützen können. Denn die Freude über „Märtyrer_innen“ oder gar deren bewusste Produktion ist vor allem ein Ausdruck von Zynismus. Eine Überlegung in diese Richtung könnte sein, ob Großdemonstrationen oder andere relativ immobile Aktionsformen immer sinnvoll sind. Allzu oft arten sie dazu aus, darauf zu warten, eingekesselt und verprügelt zu werden (wie in Deutschland z.B. bei Blockupy oder der Rote-Flora-Demo). Vielleicht sind in solchen Situationen viele kleinere Direkte Aktionen sinnvoller, bei denen mehrere Gruppen an verwundbaren Punkten Sabotagen oder kürzere Blockaden durchführen und bereits an einem anderen Ort sind, wenn sich die Gegenseite orientiert und gesammelt hat.
Das ist aber nur eine von vielen möglichen Überlegungen. Das Wichtigste ist, nicht zu vergessen und alles dafür zu tun, dass es nicht wieder zu einem solchen Mord kommt.
Pierre Michel