Neckar-K(n)astor-Tagebuch Teil V
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14. April – ich werde heute frei gelassen aber das Gefühl von Willkür lässt mich nicht los
Ich musste gestern Abend früh Schluss machen,die anderen wollten, dass ich das Licht ausmache, um fernzugucken. Und das war nicht schlecht. Es lief die erste Episode von Harry Potter. Ich hatte schon oft davon gehört, kannte die Geschichte (ich weiß Grundlage des Filmes sind Bücher) nicht. Das war die Gelegenheit das kennen zu lernen, zu Hause hätte ich dafür nicht vorm Fernseher gesessen. Ich muss sagen, ich bin positiv überrascht. Der Film hat mir gefallen, ich habe ihn bis Ende geguckt, selbst als meine Nachbarinnen schon längst schliefen. Hat irgendwie etwas anarchistisches, gefällt mir.
Ich habe anschließend nach wie vor nicht gut geschlafen, ich vermisse immer noch meine Schmerztherapie. Novalgin und die Kühlpacks haben kaum Abhilfe geschaffen. Ich schlafe schon irgendwie, weil ich erschöpft bin, erholsam isses nicht und die Schmerzen melden sich ständig.
Ich habe mich dann gleich beim Frühstück mit dem einen unfreundlichen Beamten bei der Ausgabe gestritten. Ich habe hunger und wollte als Ersatz für Margarinefett, das ich nicht essen darf, eine zweite Portion Honig. Habe ich nicht bekommen. Ich bin immer noch hungrig. Die Stimmung ist schnell angespannt, wenn Menschen hunger haben. Das ist Ursache für Konflikte.
Jetzt sind andere beim Gottesdienst, ich unterhalte mich mit den zwei Frauen, die hier geblieben sind und schreibe Tagebuch.
Eine Mitgefangene hat einen Brief an einem Anwalt formuliert, um sich eine Zweitmeinung zu holen, weil sie seit mehreren Monaten hier ist und keine Haftprüfung statt gefunden hat, sie hat das Gefühl ihr aktueller Anwalt kümmert sich nicht. Ich habe sie beim Schreiben ein bisschen unterstützt und hoffe dass sie bald mehr Plan hat, wie es bei ihr weiter geht.
Ich möchte heute über zwei Fälle berichten.
Ich habe mich gestern beim Umschluss mit der 16-Jährigen, die hier seit Ende November in Untersuchungshaft sitzt, unterhalten.
Ich frage mich wie die U-Haft hier zu verantworten ist. Es gibt hier keine altersgerechte Angebote. Es gibt in BaWü scheinbar keine Haftanstalt für jugendliche mit gesundheitlichen Einschränkungen. Es gibt hier – insbesondere für Frauen – kaum Freizeitangebote und erst recht nicht für Jugendliche. Das Mädchen ist hier die einzige Minderjährige. Nach dem Vollzugsgesetz ist es untersagt, Jugendliche zusammen mit Erwachsenen einzusperren. Frauen haben es hier schon schwerer als Männer. Wir sind ca. 10 Frauen im Verhältnis zu ca. 170 männlichen Gefangenen. Darum bin ich beim Hofgang alleine, weil ich die einzige Frau im Rollstuhl bin. Gestern wurde ich „vergessen“. Ich habe mein Recht eingefordert und durfte schließlich meine Runden auf dem Sportplatz (die Männer waren weg) unter der Aufsicht von lustlosen Beamten drehen. Habe Dehnübungen am Netz vom Tor gemacht, bissl klettern muss auch sein.
Das Angebot an Zeitschriften ist begrenzt und es gibt nur sowas wie Playboy, Auto Motor Welt, pp. Die anderen Frauen haben mir erzählt, die Männer dürfen Tischtennis spielen, solche Angebote gibt es für Frauen nicht. Außer Ergotherapie, nichts.
Das 16-jährige Mädchen war zuvor in meiner Zelle. Die junge Frau hat sich aber für eine Woche eine Einzellzelle gewünscht, selbst wenn diese eng und schlecht beleuchtet ist. Sie braucht eine Auszeit von der Zwangsgemeinschaft. Die Frauen hier haben alle ihre Probleme, Wutanfälle, „Wann komme ich hier raus“ in Dauerschleife. Das ist für sie eine Belastung.
Ich habe ihr nun auf Nachfrage erläutert, wie eine Gerichtsverhandlung abläuft, was so die einfachen Schritte sind: Aufruf der Sache, Personalienfeststellung, Verlesung der Anklage, Recht sich zu äußern oder nicht (am besten mit dem Anwalt abgesprochen), Beweisaufnahme zb mit Zeugenvernehmungen, etc. Das Zeugen vor Gericht vernommen werden, wusste sie beispielsweise nicht – obwohl sie schon mehrere Monate in U-Haft sitzt. Sie ist hier fehl am Platz. Ihre „Tat“ klingt nach einem unklugen Jugendstreich. Abenteuerlust. Sie hat zu viel Fernsehen geschaut. Das Mädchen bräuchte altersgerechte Betreuung und Angebote um ins Leben zu starten. Sie hat schon begriffen, dass sie dumme Sachen getan hat und hat sich beim Opfer mit einem Brief entschuldigt.
Die U-Haft führt dazu, dass sie ihre Ausbildung unterbrechen musste. Soziale Einbindung wird erschwert. Diese sollte stattdessen gefördert werden! Haft ist nicht die richtige Antwort. Sie ist noch ein Kind, so wirkt sie auch auf mich. Ich hoffe sehr, dass sie bald hier raus kommt. Sie hofft gerade, dass sie mit der Zusage für einen Praktikumsplatz hier raus kommt. Toi toi toi!
Ich habe inzwischen die ältere Dame, die am ersten abend bewusstlos umgefallen ist, besser kennengelernt. Ihr Fall ist ein absoluter Skandal und bei ihren Schilderungen habe ich gleich geahnt, wer dafür verantwortlich ist.
Tatata!!!! Richter am Amtsgericht Heilbronn Reißer!
Sie hat angst, weil sie einfach nicht weiß was bei ihrer baldigen Verhandlung auf sie zu kommt. Es gibt zwar keinen Grund für längere Haft, aber es gibt jetzt schon keinen Grund für ihre Inhaftierung. Hier schütteln alle den Kopf, selbst die Bediensteten, wenn sie ihre Geschichte hören oder ihre Akte lesen. Das Schlimme daran, ist nicht nur die Inhaftierung, sondern auch die Tatsache, dass ihr Gesundheitszustand durch die Strapazen der Haft sich von Tagt zu Tag verschlechtert. Ich wünsche ihr über alles, dass sie Donnerstag frei kommt. Nach eigenen Aussage weiß sie nicht, ob sie es durchhält, wenn sie länger in Haft bleiben muss.
Der Dame wird Diebstahl vorgeworfen. Sie sitzt seit 2 Wochen in U-Haft, offiziell heißt es Fluchtgefahr.
Die Diebstähle sind anderthalb Jahre her. Ausschließlich Lebensmittel. Offensichtlich aus der Not heraus. Die Dame musste ihre Arbeit aufgeben, um ihre kranke Mutter zu pflegen. Bis sich ihre Situation geklärt hatte und das Amt Grundsicherung zahlte, dauerte es mehrere Monate. In dieser Zeit hat sie gestohlen, sie wusste sich nicht anders zu helfen.
Vom Amt bekam sie dann nach einigen Monaten eine große Nachzahlung, Geldprobleme hat sie nicht mehr. Nach dem Tod ihrer Mutter hat sich versucht sich um ihre angeschlagene Gesundheit – u.a,. wollte sie von einer Tablettenabhängigkeit weg kommen – zu kümmern und wurde im März für mehrere Wochen in eine Klinik aufgenommen. Die Behandlung war dort nach ihrer Aussage sehr gut und hilfreich. Für den Erfolg der Behandlung ist es wichtig, dass die Patienten während der Behandlung die ersten Wochen keinen Kontakt zur Außenwelt haben. Das Gelände der Klinik ist groß und angenehm.
Die Dame wurde für März zu ihrer Hauptverhandlung wegen Diebstahl geladen. Sie hat die Ladung nicht erhalten, weil sie in der Klinik war. Ihr Anwalt wusste, wo sie sich aufhält, wurde aber nicht tätig. Als die Dame von der Justiz dann gesucht wurde, teilte er ihren Aufenthaltsort mit.
Sie wurde in der Klinik festgenommen, die Re-integrationswoche zur Beendigung der Therapie stand an. Alle dachten, die Angelegenheit klärt sich gleich, ist ja klar, warum sie nicht erschienen ist und es geht schließlich um lange zurück liegende Diebstähle in Wert von insgesamt 200 Euro, es gibt keine Wiederholungsgefahr. Die Sache ist als geringfügig anzusehen. Das Gericht kann ein neuer Verhandlungstermin ansetzen, sie wird erscheinen.
Es kam zum Haftprüfungstermin bei Richter Reißer. Ihr Anwalt redete mit dem Richter (kuschelte, meinte die Dame) ohne mit ihr zu reden, ohne mit ihr die Anhörung vorzubereiten. Sie stand dann alleine vor dem Richter und versuchte ihre Situation zu vermitteln. Oben geschilderte Fakten waren gerichtsbekannt, Richter Reißer wusste, weshalb sie im März nicht erschienen ist.
Richter Reißer ließ sie in Untersuchungshaft wegsperren, auf dem Papier wegen Fluchtgefahr. Real sagte er ihr, es sei die Justiz, sie habe nichts zu sagen, sie gehe wegen ihres Verhaltens bei der Anhörung in Haft. Die Dame weiß nicht was sie verbrochen hat, bei ihrer Anhörung. Sie hat ihren Standpunkt verteidigt, das ist der Zweck einer „Anhörung“. Wir haben die Vermutung, dass Herr Reißen Menschen, insbesondere Frauen, die den Mund aufmachen, um sich zu verteidigen und nicht gleich eingeschüchtert wirken, nicht leiden kann. In meinem Fall war es nicht anders!
Die Dame will den Anwalt wechseln, weil ihr Anwalt sie schlecht vertreten hat und für ihr Schicksal mit verantwortlich ist. Sie hat aber angst, dass wenn sie nun einen Anwalt, der sie anständig verteidigt, also in der Verhandlung den Mund aufmacht und ein ordentliches Verfahren fordert, Richter Reißer sich rächt und sie weitere Wochen in Haft sitzen lässt. Wenn sie in Haft bleibt, hilft ihr es nicht wenn das Urteil später durch die nächste Instanz aufgehoben wird. Und in Haft verschlechtert sich ihr Gesundheitszustand jeden Tag. Sei fühlt sich in ihrer Verteidigung durch diesen Druck, durch die Unberechenbarkeit der Entscheidungen von Richter Reißer, stark eingeschränkt.
Ich habe ihr meine Adresse gegeben, um über den Ausgang der Verhandlung informiert zu werden. Wenn sie nicht frei kommt, unterstütze ich sie wo ich kann!
Ich bin entsetzt und traurig, darüber, wie dieser Richter über Freiheit und Unfreiheit entscheidet. Das ist meiner Meinung nach gesellschaftsschädlich. Dem muss ein Ende bereitet werden!!!!