Aktivist*innen, die im Rahmen der Anti-Kohle-Aktionen von Ende Gelände 2015 an einer Autobahnbrücke demonstrierten, stehen derzeit in Erkelenz vor Gericht. Der Prozess, der am 16. November begann, musste unterbrochen werden, weil das Gericht nach 5 Stunden Verhandlung den Anklagevorwurf änderte – der erste Vorwurf war durch die Verteidigung auseinander genommen worden. Angeklagte und Verteidiger*innen hatten sich auf den für den 5.12. anberaumten Fortsetzungstermin gut vorbereitet. Sie hatten auf den neuen Vorwurf angepasste Beweisanträge formuliert und sich auf die Plädoyers vorbereitet. Dazu kam es aber nicht. Die Staatsanwaltschaft ließ den Prozess platzen.
Die Verhandlung begann mit einer Rüge der Verteidigung zu den unverhältnismäßigen Eingangkontrollen. Die Verteidigung verlangte nach einer schriftlichen Aushändigung der richterlichen Anordnung zu den Sicherheitskontrollen (auf dessen Voranden sein die Wachmeister sich bei den Eingangskontrollen beriefen) oder Hausordnung (Der Richter erklärte auf Grund der Hausordnung keinen Einfluss auf die Kontrollen nehmen zu können) und die Zulassung von Gegenständen, die beim ersten Verhandlungstag offensichtlich nicht „gefährlich“ waren und 6 Stunden lang offen auf dem Tisch der Verteidigung herum standen und nun plötzlich eine Gefahr darstellen würden. Die Verteidigung rügte eine unberechenbare willkürliche Umsetzung der angeordneten Eingangskontrollen. Sowie die unverhältnismäßige körperliche Durchsuchung einer Verteidigerin durch unsanftes Anfassen der Brust und schmerzhaftes Herumfuchteln an orthopädischen Hilfsmittel (Orthese). Solch eine Rüge ist zur Verhinderung der Präklusion im Hinblick auf eine Revision sofort einzubringen. Der Richter ließ die Verteidigerin jedoch kaum ausreden. Möglicherweise weil er um den noch kommenden Antrag der Staatsanwaltschaft bereits Bescheid wusste.
Die Staatsanwältin, die offensichtlich einen Antrag auf Befangenheit der Verteidigung gegen den Richter auf Grund der unsachgerechten Behandlung der Rüge befürchtete, wies diesen darauf hin, dass die Rüge sehr wohl gestellt werden dürfe, auch wenn sie als Staatsanwältin den Anträgen inhaltlich nicht folgen würde. Im gleichen Zug stellte sie dann ihren eigenen Antrag, der den Prozess zum platzen brach.
Nach 6 Stunden Verhandlung am 16. November und 2,5 Wochen zwischen den Verhandlungstagen wollte sie wissen, dass die Verteidiger*innen keine Rechtskunde besitzen und legte gegen die Genehmigung der Verteidiger*innen vom 16.11. nach §138II StPO Beschwerde ein. Besagte Beschwerde liegt noch nicht schriftlich vor, die Staatsanwältin war mit der Formulierung noch nicht fertig. Interessant: die Vertreterin der Staatsanwaltschaft, die die Beschwerde nun formuliert, war am ersten Verhandlungstag am 16.11. gar nicht dabei, will aber Dinge wissen, die ihrer Kollegin in der sechsstündigen Verhandlung nicht aufgefallen sind – gegen die Genehmigung der Verteidiger*innen hatte die Kollegin vom ersten Prozesstag keine Einwände erhoben. Interessant auch, dass die Staatsanwältin, die nun wegen angeblich fehlender Rechtskunde gegen die Verteidiger*innen vorgeht, in einem anderen Ende Gelände-Prozess – nämlich den Hausfriedensbruch-Prozess vom 15.11. – gegen die Bestellung eines Verteidigers vorging mit Verweis auf ein Gesetz, das es schon 9 Jahre nicht mehr gibt und sie es offensichtlich nicht wusste!
Die Verhandlung wurde auf Grund der Beschwerde der Staatsanwältin nach ca. 15 Minuten geschlossen. Der Prozess dürfte damit erstmals vorbei sein. Es kann Monate dauern, bis das Landgericht über die Beschwerde entscheidet. Der Prozess muss dann von Neuem Beginnen. Die Angeklagten und Zeugen, die weit weg wohnen, müssen dann wieder nach Erkelenz kommen und das teure Autobahngutachten erneut vorgestellt werden (die Beweisaufnahme muss wiederholt werden). Es kann darüber hinaus sein, dass der Vorwurfskarussel weiter geht! Der Staatsanwaltschaft scheint aufgefallen zu sein, dass am Vorwurf des versuchten gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr nichts dran ist. Also will sie es nun mit der Nötigung versuchen – es ist somit die 2. Änderung des Vorwurfes nach Anklageerhebung.
Der Staatsanwalt scheint es darauf anzukommen, eine Verurteilung um jeden Preis zu erreichen. §138 II StPO und die Möglichkeit, die es Angeklagten eröffnet, durch rechtskundige solidarische Aktivist*innen verteidigt zu werden, ist ihr zudem ein Dorn im Auge. Angaben der Aachener Zeitung zur Folge stellte Oberamtsanwältin Holzwart den Antrag gegen die Verteidiger*innen für die Staatsanwaltschaft.
Anmerkung am Rande:
Das erinnert mich an die Staatsanwaltschaft Münster…. ihr Versuch die Verteidiger*innen aus einem Prozess gegen Atomkraftgegner*innen zu werfen, scheiterte (Bericht). In Stuttgart übrigens auch. In Stuttgart läuft inzwischen die zweite Revision (nach einer ersten erfolgreichen Revision der Verteidigung und erneuten Verurteilung durch das AG) und in Münster läuft seit einem Jahr schon die Revision gegen das Urteil zweiter Instanz. Von wegen mangelnden Rechtskenntnisse… Wenn wir keine hätten, wären wir nicht in der Lage eine Revision zu schreiben und zu gewinnen!