Das VG Lüneburg hatte betont, dass der Schutz von Art. 8 unabhängig davon besteht, ob eine „Gefahr“ vorliegt. Gefahrenabwehrmaßnahmen nach dem Polizeigesetz dürfen auf Grund der Polizeifestigkeit von Versammlungen gegen Versammlungen und VersammlungsteilnehmerInnen nicht getroffen werden. Wenn die Polizei der Auffassung ist, sie müsse Gefahren abwenden und die Demonstration deshalb unterbinden, muss sie diese nach dem Versammlungsgesetz Auflösen oder die TeilnehmerInnen einzeln ausschließen, bevor sind gegen mit „Gefahrenabwehrmaßnahme“ nach dem Polizeigesetz gegen sie vorgeht.
Die Polizei beschlagnahmt Klettermaterial,
weil die Demonstrantinnen sich in der Nähe eines « gefährdeten Objektes » befinden…
In der Praxis wollen die PolizeibeamtInnen aber nur das Polizeigesetz kennen. Wie das Beispiel meiner Klage gegen die Lüneburger Polizei es gezeigt hat. Und es ist leider meine Erfahrung im politischen Alltag. PolizeibeamtInnen wenden regelmäßig Zwangsmittel und Gewalt gegen VersammlungsteilnehmerInnen um eine die Versammlung, die ihnen nicht genehm ist, zu unterbinden. Das nenne ich Versammlungssprengung:
„Wer in der Absicht, nicht verbotene Versammlungen oder Aufzüge zu verhindern oder zu sprengen oder sonst ihre Durchführung zu vereiteln, Gewalttätigkeiten vornimmt oder androht oder grobe Störungen verursacht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.“(§ 21 VersG)
Der Paragraf wird regelmäßig – zB durch die Staatsanwaltschaft Münster – gegen AntifaschistInnen, die mit Sitzblockade Aufmärsche von Neonazis blockieren, angewendet.
Gegen PolizeibeamtInnen findet dieser Paragraf niemals Anwendung, obwohl diese dadurch glänzen, dass sie nicht verbotene Versammlungen mit Gewalt absichtlich verhindern oder sprengen. An dieser Stelle: eine Demonstration muss nicht „genehmigt“ werden, sie darf nur „verboten“ werden. Die Nicht-Anmeldung einer Versammlung ist nicht gleichbedeutend mit „Verbot“, wie das Bundesverfassungsgericht es mehrfach Klargestellt hat (u.a. Brockdorf Urteil).
Ein Paradebeispiel für ein solches rechtswidriges Vorgehen von PolizeibeamtInnen gegen VersammlungsteilnehmerInnen war unsere kleine 4-köpfige Demonstration am RWE Tower im April 2015 in Essen. Zwei KletterInnen erklommen Säulen des RWE-Turms und spannten Transparente. Die Personen am Boden hielten einen Banner hoch, vermittelten PassantInnen die Aktion und dokumentierten diese. Anlass der Protestaktion war die Jahreshauptversammlung von RWE. Die Aktion richtete sich gegen den Verkauf der Urenco Urananreicherungsanlage.
Die Feuerwehr leistete der Polizei Amtshilfe und stelle eine Drehleiter zur Verfügung, womit die Polizei sich den Transparenten nähern und diese nacheinander abschneiden konnte. Die Transparente wurden dabei beschädigt und die Versammlung wurde faktisch unterbunden. Denn primäres Ziel einer Versammlung ist die öffentliche Meinungskundgabe, wenn die dafür vorgesehenen Transparente beschlagnahmt werden, kann die Versammlung nicht mehr wie von den Beteiligten gewünscht statt finden. Feuerwehr und Polizei wurden auf die Rechtswidrigkeit ihrer Handlung hingewiesen, es half aber nicht. Sie begründeten ihre Handlung nicht. Auf Nachfrage bei meiner anschließenden Festnahme wurde mir mitgeteilt, es handele sich bei den Polizeimaßnahmen um Gefahrenabwehrmaßnahmen nach dem Polizeigesetz. Ein angeblicher „Hausfriedensbruch“ wurde dann hinzugefügt.
Das Verfahren gegen die Beteiligten AktivistInnen wurde erwartungsgemäß sehr schnell durch die Staatsanwaltschaft nach § 170 II StPO eingestellt, die feststellte, dass die bekletterten Säulen nicht umfriedet sind, sich auf dem Gehsteig befinden und die Örtlichkeit dadurch nicht unter dem Schutzzweck von § 123 StGB fällt.
Das Verfahren gegen die AktivistInnen ist eingestellt und gegen sich selbst für die Sprengung der Versammlung haben die BeamtInnen natürlich keine Ermittlungen eingeleitet. Ich brauche auch keine Anzeige zu erstatten, wie ein solches Verfahren gegen PolizeibeamtInnen ausgeht, weiß ich nämlich schon: Ein solches Verfahren würde sowieso wie in anderen Fällen ausgehen: Einstellung weil die armen BeamtInnen nicht wussten, dass sie rechtswidrig handeln (auch wenn sie durch die Betroffenen der Maßnahmen explizit darauf hingewiesen worden sind). Das nennt die Staatsanwaltschaft Erlaubnistatbestandsirrtum ; Irrtum über rechtfertigende Umstände. Unwissen schützt PolizeibeamtInnen vor Strafe. Sie müssen nicht wissen, dass bei Versammlungen Typenfreiheit besteht und Art. 8 GG auch in der dritten Dimension gilt. Sie müssen nicht wissen, dass Versammlungen Polizeifest sind und die Anwendung von Zwang und Gewalt nach dem Polizeigesetz rechtswidrig ist . Sie müssen nicht wissen, dass sie Versammlungen nicht sprengen dürfen…. Und natürlich sind sie der Meinung, dass sie alles gut gemacht haben… man kann ja nicht wissen, dass der Gehsteig öffentlich zugänglich ist und dort somit kein Hausfriedensbruch begangen werden kann (Antwort der Polizei auf eine Dienstaufsichtsbeschwerde meines Anwaltes). Dummheit schüzt vor Strafe, schrieb die TAZ…
Die Feuerwehr war so dreist, dass sie den KletterInnen eine Rechnung in Höhe von jeweils 473,50 Euro für den rechtswidrigen Feuerwehr- und Polizeieinsatz schickte! Die Feuerwehr war überhaupt nicht verpflichtet Amtshilfe zu leiten, denn es handelte sich nicht um einen Notfall. Sie muss zur Verhinderung (oder Sprengung) von Versammlungen, die RWE und Polizei missfallen, keine Amtshilfe leisten. Für einen rechtswidrigen Einsatz muss man ja auch nicht zahlen. Ich habe etwas ungehalten auf die Forderung reagiert. Die Rechnung wurde daraufhin zurück genommen. Wie großzügig!
Ich darf mich jetzt mit der Essener Polizei darüber streiten, ob der Eintrag „Hausfriedensbruch“ zu der Aktion aus der Polizeidatei gelöscht wird. Die Polizei speichert alle möglichen Vorwürfe, auch wenn es totaler Unfug ist – angeblich ist die Speicherung Wahrnehmung ihrer Aufgaben im Bereich des Gefahrenabwehrs (zB. Verfolgung von zukünftigen angeblichen Straftaten) notwendig.
Mit solchen Einträgen begründete die Lüneburger Polizei in meinem Fall eine MEK-Überwachung (darüber gibt es zwei Kurzgeschichten in meinem Buch). Sie musste die Rechtswidrigkeit der Überwachungsmaßnahmen vor Gericht einräumen.
Mit solchen Einträgen begründete die Lüneburger Polizei die Anordnung eines 4-tägigen Langzeitgewahrsams vor dem CASTOR 2008 (sogenannte Gefahrenprognose)… Falsche polizeiliche Verdächtigungen gefährden die Freiheit!