Von Widerstand und Strategie

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Erörterungstermin in Lingen: Beteiligung für die Katz?

mein Artikel zur Brennelementefabrik Lingen und Beteiligungsverfahren, erschienen in GWR 495

Am 20. November 2024 habe ich den Erörterungstermin zur Erweiterung der Brennelementefabrik in Lingen besucht. Über die Inhalte schreiben andere GWR-Autor*innen. Ich setze den Fokus auf die (Un-)sinnhaftigkeit eines solchen Beteiligungsverfahrens. Selbst wenn darin Vorteile zu sehen sind, sehe ich solche Verfahren kritisch. Zahlreiche Beispiele aus der Vergangenheit haben uns gelehrt, dass die Wahl der Strategie von erheblicher Bedeutung ist, wenn es darum geht, ein gefährliches Großprojekt wie den Bau oder hier die Erweiterung und Neuausrichtung einer Atomanlage zu verhindern.

Sinnhaftigkeit

Einige werden möglicherweise anlässlich des Erörterungstermins zum ersten Mal gehört haben, dass es diese Anlage überhaupt gibt und eine Erweiterung deshalb im Gespräch ist, weil sie vom Atomausstieg ausgenommen wurde. Das Erörterungsverfahren bringt öffentliche Aufmerksamkeit für das Thema, die es sonst nicht gäbe. Solche Termine können Anlass für politische Aktionen sein, ob vor der Veranstaltungshalle, der Anlage oder dem zuständigen Ministerium. Es ist die Gelegenheit, Argumente auf den Tisch zu legen. In diesem Fall war die Vernehmung des ANF/Framatome-Verantwortlichen über mehrere Stunden hinweg unterhaltsam, nicht der Inhalte wegen, sondern der für ihn sichtlich unangenehmen Situation. Die Atomlobby macht sich selbst lächerlich. Es wurde zugegeben, dass Fakten geschaffen wurden, mit dem vorzeitigen Bau der neuen Maschinen zusammen mit russischen Mitarbeitenden. Gefahren wurden heruntergespielt. So konnte die Absurdität des ganzen Verfahrens zur Schau gestellt werden. Schließlich sorgen die zahlreichen Einwendungen von Bürger*innen und der Erörterungstermin für eine Verzögerung der Entscheidung über den Antrag von Framatome.

Absurd, genauso wie vor Gericht

Ich hatte keine Einwendung geschrieben, war trotzdem beim Erörterungstermin anwesend. Wie passt das zusammen? Ich habe grundsätzlich eine skeptische Haltung zu so einem Verfahren, wollte es mir jedoch mindestens einmal von innen anschauen. Das Beteiligungsverfahren halte ich für Scheindemokratie. Es hat viele Ähnlichkeiten mit einem Gerichtsverfahren. Bürgerinnen werden angehört, ihre Argumente anschließend bei der Entscheidung selten berücksichtigt und meistens abgetan. Das legitimiert die spätere Entscheidung, genauso wie eine gerichtliche Anhörung eine Gerichtsentscheidung legitimiert. Ich erinnere mich an meinen Langzeitgewahrsam beim Castor nach Gorleben 2008. Der zwei Seiten lange Gerichtsbeschluss zur Bestätigung der Ingewahrsamnahme wurde vor meiner Anhörung geschrieben. In Lingen lief der Termin genauso wie bei Gericht ab: Absurdes Theater. Framatome hatte Mitarbeiterinnen freigestellt, damit sie dem Termin beiwohnen. Entsprechend waren die Einwender*innen von Mitarbeitenden mit ihren Aufklebern „Proud to be Framatome“ umzingelt. Dies wurde gerügt und weil der Vorsitzende keine Anstalten machte, das Problem zu lösen, gegen ihn ein Befangenheitsantrag gestellt. Es wurde weiter erörtert, der Befangenheitsantrag auf die lange Bank geschoben. Seine Vorgesetzte erklärte am Ende des Nachmittags ihren Kollegen für unbefangen. Wie sonst auch bei Gericht, wer erklärt schon den Kollegen, mit dem Kaffee getrunken wird, für befangen?

Strukturelles Problem: Umarmungsstrategie

Ein Problem bei solchen Beteiligungsverfahren ist die strukturelle Ungleichheit. Es verbraucht viele Ressourcen, doch die einen (Vertreterinnen vom Staat und Konzern) werden dafür bezahlt, die anderen nicht. Die einen sitzen auf dem – fast ausschließlich männlich besetzten – Podium, die anderen im Saal. „Waffengleichheit“ (im juristischen Sinne) existiert nicht. Solche Verfahren bergen die Gefahr von Institutionalisierung und Vereinnahmung von Widerstand. Von Seiten der Politik findet eine Umarmungsstrategie statt, um den Widerstand auf der Straße klein zu halten. Menschen fühlen sich geehrt und wertgeschätzt, dort eingeladen zu sein und reden zu dürfen, sind stolz auf einer Landespressekonferenz reden zu dürfen. Der zuständige Minister tut, als wäre er gegen das Projekt. Er verpackt seine Aussage jedoch in Politiker-Sprech, beim genau Hinhören verweist er schließlich auf das durch Beteiligung von Bürgerinnen legitimierte Erörterungsverfahren und rechtliche Sachzwänge und stiehlt sich aus seiner politischen Verantwortung. Es wird auf technische Fragen und Gefahrenanalysen reduziert, obwohl das Politische in den Vordergrund zu stellen wäre. In Lingen nämlich die geopolitische (und gesellschaftliche) Frage: Wollen wir eine Kooperation und weitere Abhängigkeit von Russland? Kann man noch von „Atomausstieg“ sprechen, wenn diese Anlage unbefristet weiterläuft? In welcher Gesellschaft wollen wir leben? Mit oder ohne Atomkraft?
Entscheidungen hängen stark von politischen Machtverhältnissen ab, davon wie stark eine Widerstandsbewegung ist.
Ob eine öffentliche Anhörung oder Debatte für die Katz ist, ist schwer zu sagen. Ich mag Katzen, aber ich beziehe mich mal auf den Sinn der Redewendung. Eine Beteiligung bindet viele Ressourcen, die dann für radikalen Protest gegen den Atomstaat fehlen. Es ist Abwägungssache.

Boykott-Strategie

Die Protestgeschichte hat gezeigt, dass die Wahl der Strategie von Bedeutung ist und dass ein Boykott des staatlichen Verfahrens zum Erfolg führen kann. Das AKW im französischen Plogoff wurde mit Widerstand auch gegen das öffentliche Beteiligungsverfahren, verhindert. Die Akte sollte im Rathaus ausgelegt werden, damit Menschen Einwendungen formulieren können. Die Auslegung war zugleich ein zwingender Schritt im Genehmigungsverfahren. Ein Boykott hatte das Potential das Genehmigungsverfahren erheblich zu stören. Die Atomkraftgegner*innen aus Flamanwille hatten sich kurz zuvor am Verfahren beteiligt. Ihre Einwendungen wurden ignoriert. Diese Erfahrung trug zur Boykott-Entscheidung in Plogoff bei. Der Bürgermeister verbrannte die Akte.
Die Bevölkerung protestierte auf der Straße, die Akte wurde durch das Militär geschützt. Die Strategie hat neben zahlreichen Demonstrationen, der Zusammenführung der Kämpfe von Larzac undPlogoff, erheblich zum Erfolg des Widerstandes beigetragen. (1)
In der jüngsten Geschichte gab es in Frankreich viele Boykottaktionen von pseudo-demokratischen Beteiligungsverfahren. Die frankreichweite öffentliche Debatte zum geplanten Endlager in Bure wurde mehrfach gestört (die GWR berichtete), das sorgte für Schlagzeilen und die Regierung flüchtete sich mit ihrer Debatte ins Internet. Das Projekt wurde inzwischen als „gemeinnützig“ deklariert, allen Einwendungen zum Trotz. Der Widerstand geht dort weiter.
Der Widerstand gegen das Großprojekt Stuttgart 21 ist ein gutes Beispiel für eine Reflexion über Strategie. Der Soziologe Thomas Wagner spricht von „Mitmachfalle“ (2). „Es wird nicht versucht, Bürgerbeteiligung als ergebnisoffenes Institut der Demokratie zu etablieren, sondern als ein Vehikel einer weichen Herrschaftsausübung, also es instrumentell zu verwenden. […] Der Begriff, der dort auch gefallen ist, war ‚strategische Dialoge‘. Man tritt mit den Bürgerinnen und Bürgern in einen Dialog. Der Dialog ist von vornherein so gestaltet, die Formate sind so gebaut, dass schon feststeht, was am Ende herauskommen soll, nämlich die Durchführung eines bestimmten Projektes. Deswegen strategischer Dialog. Man hat somit den Widerspruch zwischen Herrschaft und demokratischer Beteiligung im Verfahren selbst.“(3)

In Lingen wird es vor der Bundestagswahl möglicherweise keine Entscheidung zur Erweiterung geben. Ich lasse mich gern überraschen. Aber ich rechne mit einer Entscheidung nach dem Motto „Wir sind dagegen, konnten aber aus rechtlichen Gründen das Vorhaben nicht untersagen“.
Derweil läuft die Anlage – selbst ohne Kooperation mit Rosatom – weiter. Die eigentliche Forderung darf nicht aus den Augen verloren werden: Für die sofortige Abschaltung der Anlage und aller weiteren Atomanlagen in Deutschland – und weltweit!

Eichhörnchen

Anmerkungen:

1) „Plogoff, un combat pour demain“ von Gérard Borvon, Editions Cloître
2) Thomas Wagner: Die Mitmachfalle – Bürgerbeteiligung als Herrschaftsinstrument, PapyRossa Verlag, Köln 2013
3) Siehe: https://www.deutschlandfunkkultur.de/buergerprotest-und-buergerwille-wer-sich-engagiert-dem-100.html

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