Zündeln an den Strukturen

Eine Buch-Rezension vom Eichhörnchen Libertäre Buchseiten, Beilage zur GWR 487 märz 2024

oder: Macht kaputt was euch kaputt macht!

Ottmar Miles-Paul / Katrin Grund: Zündeln an den Strukturen, Selbstverlag 2023, 288 Seiten, 17 Euro, ISBN 9783757579388

Covert vom Buch Zündeln an den Strukturen mit Bild eines brennenden Haus aus Steichhölzern

Der Roman „Zündeln an den Strukturen“ beginnt mit einer Brandstiftung an der Lidenwerkstatt, einer Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM). Was folgt ist eine Abrechnung mit dem System der WfbM und dem gesellschaftlichen Ableismus, also der Diskriminierung aufgrund einer körperlichen oder psychischen Beeinträchtigung oder aufgrund von Lernschwierigkeiten

Der*die Leser*in fiebert mit und hofft, dass die Brandstifter*innen, die alle drei in der Werkstatt arbeiten, nicht erwischt werden. Denn schnell wird klar: die wahren Kriminellen sind die Wohlfahrtsverbände, die Geld durch Ausbeutung und Unterdrückung auf dem Rücken der Behinderten mit dem Werkstattmodell machen. Die Brandstiftung ist ein Verzweiflungsakt Betroffener und zugleich ein mächtiges politisches Mittel, um Aufmerksamkeit auf die Zustände zu ziehen. Wenn es keine Werkstätte mehr gibt, muss man sich endlich mit der Inklusion von Menschen mit Behinderung auf dem Arbeitsmarkt auseinandersetzen. So die Hoffnung der Brandstifter*innen.

Die Zustände in den Werkstätten kommen mit Hilfe der fiktiven Roman- und Erzählfigur und Mitautorin Katrin Grund zu Tage. Die junge Journalistin berichtet über den Brand und taucht immer tiefer in das System, wird zur investigativen Journalistin und stößt auf viele Widerstände. Unterstützt wird sie bei ihrer Recherche durch eine „Enthinderungsgruppe“, einer Gruppe Aktivist*innen, die sich für Selbststimmung einsetzt und gegen Ableismus kämpft. Gegen die Behinderung durch die Gesellschaft. Die Gruppe setzt sich für Alternativen ein. Für das Modell des persönlichen Budgets und der persönlichen Assistenz oder der Arbeitsassistenz. Das Modell ermöglicht das Leben in den eigenen vier Wänden, weg vom Heim. Die Arbeitsassistenz unterstützt behinderte Arbeitnehmer*innen für ihren regulären Arbeitsplatz.
Anders als oft in der Öffentlichkeit behauptet wird, ermöglicht die Werkstatt den Sprung in den Arbeitsmarkt nicht. Das ist vielmehr ein Ort der Absonderung. Nicht einmal ein Prozent der Beschäftigten wird auf den allgemeinen Arbeitsmarkt vermittelt. Das Durchschnittseinkommen der behinderten Beschäftigten beträgt gut 200 Euro im Monat für eine Vollzeitbeschäftigung – ohne Arbeitnehmer*innenrechte.

Die fiktive Erzählerin macht die Besonderheit des Romans aus. Er liest sich wie ein Krimi – und ist Aufklärung zugleich. Denn die Strukturen, an denen im Roman gezündelt wird, sind real. Ein trockenes Aufklärungsbuch würde wahrscheinlich wenige Leser:innen finden. Ein Roman dagegen hat das Potential, ein breiteres Publikum zu erreichen.
Das Buch sollten insbesondere Nichtbehinderte lesen. Die Betroffenen fordern dabei Arbeitnehmer*innenrechte und den Mindestlohn. Nur die wenigsten sind sich bisher der unhaltbaren Zustände bewusst. Selbst unter Menschen, die sich als links oder anarchistisch bezeichnen, fand eine Kampagne von Betroffenen wie #IhrBeutetUnsAus in den sozialen Medien wenig Einklang. Die Kritik an die ebenfalls im Buch thematisierten Zuständen in Behindertenheimen kommt in linken politischen Kreisen oft zu kurz. Heime sind Orte der Kontrolle, das Gegenteil von Selbstbestimmung. Sie sind anfällig für Gewalt. Die vier Morde an Behinderten durch eine Angestellte im Oberlinhaus in Potsdam im April 2021 sind ein trauriger Höhepunkt dieser Gewalt.

Katrin Grunds Mitautor Ottmar Miles-Paul engagiert sich seit über vierzig Jahren für die Rechte behinderter Menschen. Er ist selbst seh- und hörbehindert. Er ist bei der ISL e.V. (Interessenvertretung Selbstbestimmt leben) aktiv und hat viele Fachartikel veröffentlicht. Als Journalist beim Online-Nachrichtendienst kobinet-nachrichten (1) schreibt er über Behindertenpolitik. Das Buch ist sein erster Roman.
Es ist rechtzeitig vor der Staatenprüfung Deutschlands zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention Ende August 2023 erschienen. Dort wurde Deutschland und sein System der Aussonderung behinderter Menschen, ob in Werkstätten, Heimen oder Förderschulen, scharf kritisiert. Die deutsche Behindertenpolitik verstößt gegen die UN-Behindertenrechtskonvention.

(1) Kobinet-Nachrichten:
https://kobinet-nachrichten.org

Das Buch kann hier bestellt werden:
https://www.epubli.com/shop/zuendeln-
an-den-strukturen-9783757579388
. Eine Hörbuchversion ist in Arbeit. Zum Nachhören gibt es bereits eine Lesung als Podcast:
https://podcasts.apple.com/de/podcast/igel-inklusion-ganz-einfach-leben/id1563364492