Artikel aus der Zeitschrift GWR 458 April 2021
„Die Versammlungsfreiheit schützt Versammlungen und Aufzüge als Ausdruck gemeinschaftlicher, auf Kommunikation angelegter Entfaltung“, steht in einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Die Praxis sieht anders aus und ist von ständigen Gesetzesverschärfungen und – häufig rechtswidrigen – Einschränkungen des Versammlungsgrundrechts geprägt.
Gesetzesverschärfungen überall
Vor wenigen Wochen wurde bekannt gegeben, NRW plane die Verabschiedung eines neuen Versammlungsgesetzes. Kritik wurde laut – zu Recht (die Analyse von RA Prigge finde ich interessant). Immer mehr Bundesländer verabschieden sich vom bundesweiten Versammlungsgesetz. Diese Gesetze sind in einigen Bundesländern liberaler als in anderen. Allgemein ist aber verschärft eine grundrechtsfeindliche Auslegung der Versammlungsgesetze festzustellen.
Das Land Niedersachsen hat bereits 2011 ein neues Versammlungsgesetz verabschiedet.
Kritisiert wurde damals die Unbestimmtheit zahlreicher Formulierungen, die den Behörden Spielraum für eine versammlungsfeindliche Auslegung bieten.
Scharf kritisiert wurde die Ausweitung des Uniformverbots in einer ähnlichen Art und Weise, wie sie nun in NRW droht. Die Ausweitung des Verbotstatbestands bezüglich der Vermittlung des “Eindrucks von Gewaltbereitschaft” ist äußerst problematisch. Die Vorschrift ist so schwammig, dass die Versammlungsbehörde diese nach Belieben auslegen und so Versammlungen kriminalisieren kann.
Weiterer wesentlicher Kritikpunkt sind verdeckte Maßnahmen. Die Versammlungsbehörde darf die über Anmelder*innen und Leiter*innen einer Versammlung erhobenen Daten durch Anfragen an Polizei- und Verfassungsschutzbehörden daraufhin prüfen, ob die betroffene Person die öffentliche Sicherheit unmittelbar gefährdet, und gegebenenfalls die Person als Leiterin oder Leiter ablehnen. Ob die Versammlungsbehörde eine Überprüfung der Daten vornimmt, entzieht sich der Kenntnis der von dieser Maßnahme Betroffenen.
„Die Normen haben eine einschüchternde Wirkung und schrecken von der Wahrnehmung der Versammlungsfreiheit ab. Aufgrund der in den angegriffenen Normen getroffenen Regelungen ist […] nicht abschätzbar, welche Belastungen und Risiken mit der Wahrnehmung ihres Grundrechts verbunden sind. […] Die angegriffenen Normen erweisen sich mithin als ‚behördenfreundlich‘ und ‚grundrechtsfeindlich‘. Sie sind nicht ‚versammlungsfreundlich‘ ausgestaltet“, schrieb bereits 2011 das Bündnis „Versammlungsfreiheit für Niedersachsen“. Die Praxis bestätigt diese damalige Einschätzung.
Praxisbeispiel Lüneburg
Die Hansestadt Lüneburg hat mit ihren ca. 75.000 Einwohner*innen eine aktive politische Szene. Im Jahr 2020 gab es laut Stadtverwaltung 192 Versammlungsanmeldungen im Stadtgebiet.
Angemeldete Versammlungen werden regelmäßig mit unverhältnismäßig das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit gefährdenden Auflagen oder gar Verboten belegt. Dies trifft insbesondere auf Versammlungen mit politisch emanzipatorischen Themen zu: Ob Klima, Recht auf Stadt, Rassismus und Black Lives Matter, Seebrücke, Feminismus oder Antifa.
Anmelder*innen von Versammlungen müssen ihre Kundgebungen häufig im Eilverfahren vor dem Verwaltungsgericht durchsetzen. Verstöße gegen das Versammlungsgesetz haben für die Versammlungsbehörde keine Konsequenzen. Gegen Versammlungsleiter*innen und Teilnehmer*innen wird dagegen eifrig ermittelt und prozessiert – es sei denn, sie gehören zu den „Corona-Leugner*innen“. Ich gebe ein paar Beispiele aus der Praxis.
Unzulässiger Einfluss auf die Außendarstellung von Versammlungen
Das Thema Wohnraum für alle und Recht auf Stadt erhielt im Frühjahr 2020 im Zuge der Auseinandersetzung um bewohnte Bauwagen auf dem Grundstück des alternativen Wohnprojektes Unfug (die GWR berichtete) große öffentliche Aufmerksamkeit. Doch ihr Recht, auf dem Marktplatz zusammen mit 300 Menschen und mit „kundgebungimmanenten“ Gegenständen eine Versammlung durchzuführen, mussten die Veranstalter*innen im Eilverfahren vor Gericht erkämpfen. Die Behörden hatten zuvor das Aufstellen eines Bauwagens für die Kundgebung sowie eine Baumkletteraktion mit Transparenten verboten. Diese Verbote wurden vom Gericht gekippt.
Die Stadt bleibt allerdings unbelehrbar. Das durch das Gericht im Eilverfahren für rechtswidrig erklärte Baumkletterverbot ist beispielsweise immer noch in allen Versammlungsbescheiden der Behörde enthalten.
Heiliger Einkaufs- und Freizeitbummel
Die Stadt untersagte einer „Black Lives Matter“-Demonstration im Juli 2020, durch die belebte Innenstadt zu laufen, mit Verweis auf Hygieneschutz und Corona. Ein Aufmarsch könne nicht stattfinden, er würde dem Einkaufsbummel in der Stadt zu nahe kommen. Die Versammlung des feministischen Bündnis 8. März wurde, am 7. März 2021, zum Schutz der Freizeitgestaltung in der Innenstadt an einem Sonntag unter Verweis auf Corona ebenfalls untersagt. Die Versammlung würde flanierende Menschen stören.
Die Veranstalter*innen hatten ein Hygienekonzept vorgestellt, die Corona-Inzidenz lag zu diesem Zeitpunkt jeweils unter dem Wert von 35. Die Stadt argumentierte im „Kooperationsgespräch“, es führe zu einer Belästigung der Allgemeinheit, wenn der Demonstrationszug durch den Abstand zwischen den Menschen zu lang werde. Das Verwaltungsgericht widersprach dem, billigte jeweils das Hygienekonzept und hob die Verbote auf. Ein Freibrief für Corona-Leugner*innen ist der Beschluss nicht, Versammlungen dürfen weiter untersagt werden, wenn es konkrete Anhaltspunkte dafür gibt, dass die öffentliche Sicherheit gefährdet wird, z.B. wenn nicht damit zu rechnen ist, dass Veranstalter*innen sich an die Masken- und Abstandpflicht als Coronaschutzmaßnahmen halten werden, und sie somit die Gesundheit anderer gefährden.
„Die Straße ist den Autos gewidmet“
Das Zitat stammt aus einer Versammlung in der Niedersächsischen VW-Stadt Wolfsburg. Dort wurde am 2. Juni 2020 eine Versammlung mit dieser Begründung auseinandergenommen und die Teilnehmer*innen 2 Stunden lang eingekesselt – freilich ohne die Möglichkeit, den Corona-Abstand im Kessel einzuhalten. Der Polizei ging es offensichtlich nicht um Infektionsschutz, auch wenn sie den Einsatz nachträglich damit begründete.
Das Auto ist nicht nur in Wolfsburg heilig. Das Lüneburger Klimakollektiv meldete zum 12. Dezember 2020 eine Fahrraddemonstration über die autobahnähnliche Umgehungsstraße an, um am Jahrestag des Pariser-Klimaabkommens gegen den geplanten Ausbau der A39 zu protestieren. Das Verbot wurde mit möglichen Staus begründet, die Stadt nutzte dafür die schwammige Formulierung zu „Gefahren“ aus dem Versammlungsgesetz. Sie argumentierte zudem, der Verkehrsfluss in die Stadt dürfe in der Vorweihnachtzeit nicht gestört werden. Das Verbot wurde durch das Gericht gekippt.
Abschreckung durch Repression
Ein Versammlungsgesetz soll das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit schützen. In Wirklichkeit schränkt es dieses Recht ein, Menschen werden kriminalisiert. Zwei Antifaschist*innen stehen seit Januar 2021 vor Gericht. Ihnen wird eine Straftat vorgeworfen, die Sprengung einer Versammlung von Corona-Leugner*innen durch laute Musik in einem Baum im Mai 2020. Die Verstöße der Corona-Leugner*innen gegen Auflagen wie Masken- und Abstandsgebot, die rechtlich sogar eine Auflösung nach sich hätten ziehen können, wurden dagegen nicht geahndet. Eine Anfrage an die Hansestadt hat ergeben, dass im Oktober und November 2020 insgesamt 6 Ordnungswidrigkeitsverfahren gegen „Querdenker“ eingeleitet wurden. Hier wird mit dem Versammlungsgesetz Politik gemacht.
Ein weiterer Aktivist stand im Februar 2021 ebenfalls wegen eines Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz vor dem Amtsgericht. Er soll als Versammlungsleiter im Juli 2020 bei einem „Recht auf Stadt“-Camp nicht dafür gesorgt haben, dass die Musik nach 22 Uhr abgestellt wurde. Ein Verstoß gegen die Auflage, die Musik nach 22 Uhr untersagte. Ob die Musik jemanden gestört hat, war nicht Gegenstand der Verhandlung. Bei Ordnungswidrigkeitsverfahren gilt das Opportunitätsprinzip. Die zuständige Behörde darf, muss aber nicht verfolgen. Die Stadt setzt offensichtlich auf Repression, um Menschen von der Ausübung ihres Grundrechts abzuhalten. Das Verhalten von Frau Westerhoff, der Vertreterin des Rechtsamtes, ließ in der Hauptverhandlung aufhorchen. Sie legte großen Verfolgungseifer an den Tag und fiel der Verteidigung andauernd ins Wort. Der Betroffene und seine Unterstützer*innen würden ständig gegen Gesetze verstoßen, der Verstoß müsse nun also unbedingt geahndet werden. In Wirklichkeit sind es die Versammlungsbehörde und das Rechtsamt, die immer wieder rechtswidrige Versammlungsauflagen machen und nicht einmal in der Lage sind, das richtige Gesetz in einem Bußgeldbescheid zu zitieren. Das Rechtsamt hatte sich auf das in Niedersachsen nicht mehr gültige bundesweite Versammlungsgesetz berufen. Der Aktivist wurde nach 5,5, Stunden Verhandlung zu 90 Euro Bußgeld (statt 500 Euro im Bußgeldbescheid) verurteilt – stellvertretend für den von einem Teilnehmer begangenen Verstoß gegen eine Auflage. So etwas macht das Versammlungsgesetz möglich. Die Verurteilung sei aber keine Aussage über Rechtmäßigkeit der Auflage, gegen die verstoßen wurde, erklärte Richterin Reitzenstein und kritisierte das Verhalten der Verwaltungsbehörde ungewöhnlich scharf.
Wer wegen Verstoß gegen unverhältnismäßige Auflagen nicht auf der Anklagebank landen will, muss systematisch dagegen klagen. Diese und weitere hier aufgezeigte Hürden führen häufig dazu, dass Grundrechtsträger*innen sich nicht mehr trauen, eine Versammlung durchzuführen. Dazu fehlt ihnen das juristische Know-How, die Erfahrung, wie mit den dominant auftretenden Versammlungsbehörden umzugehen ist. Mögliche strafrechtliche Folgen schweben wie ein Damoklesschwert über der Versammlungsfreiheit. Hier ist das Engagement erfahrener rechtskundiger Menschen als ehrenamtliche Rechtsbeistände wichtig. 4 Versammlungen konnten in den letzten Monaten nur mit dieser Strategie durchgesetzt werden. Und es wurde nicht gegen jede unverhältnismäßige Auflage geklagt. Die Betroffenen trauten es sich nicht immer zu, oder es fehlte die Zeit für einen Eilantrag bei Gericht.
Die Versammlungs-Verhinderungsgesetze gefährden Grundrechte!
Eichhörnchen