Die Gruppe Rollfender Widerstand – direkte Aktionen gegen Barrieren – blickt auf zwei erfolgreiche Aktionstage zurück. Ich war auch dabei. Am Samstag sind wir mit unseren Rollstühlen und Bannern an der Fassade vom Bahnhof Frankfurt am Main West geklettert. Wenn die Bahn keine Aufzüge baut, Barrierefreiheit misachtet, bringen wir den eigenen Aufzug mit, zumindest symbolisch. Es braucht ungewöhnliche Aktionen für Aufmerksamkeit auf das Thema. Es ist schwer die Öffentlichkeit auf Misständnisse, die eine Minderheit betreffen, Menschen mit Behinderung und chronischen Erkrankungen, aufmerksam zu machen und Veränderungen zu bewirken. Die Aktionsgruppe wird sicherlich weitere Aktionen in die zukunft durchführen.
Auf der Homepage https://fightableism.noblogs.org/, wo die Gruppe sich auch vorstellt, gibt es zahlreiche Hintergrundinformationen.
Ich übernehme heute die Pressemitteilung der Aktionsgruppe zur Aktion in Frankfurt West, am 20.08.2022, weil sie viele Hintergründe und Vorschläge wie die Bahn zugänglicher für alle gemacht werden kann, enthält.
Banner-Drop mit kletternden Rollstuhlfahrer*innen
Ungewöhnliches Bild am Bahnhof Frankfurt am Main West an diesem frühen Samstag: Behindertengerechtigkeitsaktivist*innen klettern mit ihren Rollstühlen und seilen sich an der Fassade des Bahnhofes mit einem Banner, auf dem „Mobilitätswende für alle“ steht, ab.
Mit dieser ungewöhnlichen Aktion will die Aktionsgruppe Rollfender Widerstand – direkte Aktion gegen Barrieren – auf die ableistische Verkehrspolitik, die die Rechte von Menschen mit Behinderung mit Füßen tritt, aufmerksam machen. Die Aktivist*innen haben den Bahnhof Frankfurt am Main West für ihre Aktion gewählt, weil dieser nicht barrierefrei ist, obwohl er in Frankfurt eine wichtige Rolle im Regional- und Fernverkehr hat. Der barrierefreie Ausbau des Bahnhofs ist zwar in Planung, doch es geht zu langsam voran; laut Personenbeförderungsgesetz müsste der Bahnhof seit Anfang diesen Jahres barrierefrei umgebaut sein. Das steht beispielhaft für die gesamte Verkehrspolitik. Barrierefreiheit hat in den Köpfen von Politiker*innen und Planer*innen keine Priorität.
Aktuelles zur Aktion sowie Bilder findet ihr bei Twitter oder bei Mastodon falls ihr kein Twitter Konto habt.
Den Aktivist*innen geht es bei ihrer Aktion um mehr als den stufenlosen Zugang für Rollstuhlfahrer*innen. Sie fordern auch andere Behinderungen und chronische Krankheiten zu berücksichtigen und präsentieren Ideen zum Abbau verschiedener Barrieren, um klimafreundliche Mobilität für Alle möglich zu machen. Beispielsweise fordern sie mehr Schlaf und Liegewagen damit auch chronisch Kranke besser mitfahren können und auch weniger übervolle Züge da diese unter anderem für neurodivergente Menschen besonders schwer zugänglich sind. (Siehe unten für die gesamten Forderungen).
Die zweithäufigte Ursache für Diskriminierung (nach rassistischer Diskriminierung) ist laut Jahresbericht der Antidiskriminierungsbeauftragten Ferda Ataman eine Behinderung oder chronische Erkrankung. Dies spiegelt sich in der Verkehrspolitik wider.
Dass Barrierefreiheit auch bei der Stadt Frankfurt nicht auf der Prioritätenliste steht, zeigt bereits die Tatsache, dass die Stadt eine Presseanfrage zum barrierefreien Ausbau des ÖPNV seit Februar 2022 unbeantwortet ließ.*
“Die Tatsache, dass Anfragen ignoriert werden und der Ausbau kaum vorangetrieben wird, zeugt von einer ableistischen Politik,” sagt Cécile, die mit ihrem Rollstuhl an einem Kletterseil neben dem Banner hängt, und erklärt dann: “Ableismus kommt aus dem Englischen von „to be able“, also fähig sein und ist ein Wort, das Diskriminierung von Menschen mit Behinderung aufzeigt.” Ableismus wird oft als Behindertenfeindlichkeit übersetzt, es geht dabei aber auch um strukturelle Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen. Darunter fällt z.B., dass Gleise wegen der Stufen für Menschen mit Rollstuhl nicht zugänglich sind, aber auch ein fehlendes oder mangelhaftes Blindenleitsystem. Von der anderen Seite des Banners ergänzt der ebenfalls mit Rollstuhl kletternde Klimaaktivist Max: „Barrierefreiheit darf nicht auf Rampen reduziert werden. Es bedeutet viel mehr!“
Die Aktionsgruppe hat Frankfurt am Main gewählt, weil die Bahn dort ihren Sitz hat und in der Vergangenheit gezeigt hat, dass der Konzern es mit der Barrierefreiheit nicht so ernst nimmt. Einer Reisenden mit Rollstuhl, die einen über zweistündigen Umweg mit der Bahn machen musste, weil ihr Fernverkehrszug über Frankfurt West umgeleitet wurde und sie dort nicht wie alle anderen Fahrgäste mangels Barrierefreiheit umsteigen konnte, wurde seitens der Bahn geschrieben, es sei keine Diskriminierung. Die Bahn weigert sich Diskriminierung beim Namen zu nennen. Stattdessen wurde ihr auf die Frage, wann der Bahnhof denn endlich barrierefrei umgebaut werde, lapidar mitgeteilt: „Das kann ich nicht beantworten. Da es eher ein unbedeutender Bahnhof ist und barrierefreie Alternativen in der Nähe liegen, wird das sicherlich noch eine Weile dauern.“ (Social-Media-Team der DB). Dagegen steht das Personenbeförderungsgesetz (PBefG), das vorschreibt, dass der öffentliche Nahverkehr ab dem 01.01.2022 barrierefrei sein soll.
Was die Gruppe fordert, ist tatsächlich nicht übertrieben und sogar bereits gesetzlich vorgeschrieben: Alle Menschen haben gemäß Grundgesetz das Recht auf Teilhabe am öffentlichen Leben und niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden. Die bereits 2009 ratifizierte UN-Behindertenrechtskonvention verpflichtet Deutschland dazu, im öffentlichen Raum einen „gleichberechtigten Zugang […] zu Transportmitteln“ zu schaffen.
Max fasst es so zusammen: „Die Gesetze für Barrierefreiheit gibt es ja schon. Sie werden nur nicht umgesetzt, vielleicht weil niemand von uns erwartet, dass wir uns wehren. Aber das tun wir, deswegen haben wir uns für eine direkte Aktion entschieden.“
Jetzt ist ein wichtiger Moment für Barrierefreiheit im öffentlichen Verkehr, denn die Klimakrise macht eine schnelle Wende hin zu CO2-neutralem Verkehr nötig. Gleichzeitig ist klar, dass die Mobilitätswende nur gelingen kann, wenn Bus und Bahn wirklich für Alle zugänglich werden. Das bedeutet, dass sie möglichst kostenfrei und barrierearm sein müssen. Das 9€-Ticket ist ein guter Schritt, es zeigt aber, dass Bus und Bahn dringend ausgebaut werden müssen, und dabei sollte Barrierefreiheit von Anfang an mitgedacht werden.
Die Gruppe Rollfender Widerstand hat eine Liste mit Ideen gesammelt, wie die Bahn für Menschen mit Behinderungen und chronischen Krankheiten zugänglicher werden kann:
- Mobilitätsservice: Unbürokratisch und ohne Anmeldung, verfügbar solange Züge fahren
- Berücksichtigung unterschiedlicher Behinderungen und Einschränkungen bei der Infrastruktur:
z.B (rollstuhlbefahrbare) Liegewagen und Ruhewagen für neurodivergente Menschen
und für chronisch Kranke, die sich ausruhen müssen oder nicht lange sitzen können - Durchsagen sowohl per Lautsprecher als auch auf der Anzeigetafel
- Unbürokratische Entschädigung von Betroffenen bei Barrieren und Diskriminierung
- Schulung über Ableismus für Mitarbeitende der Deutschen Bahn
- Weiterhin Maskenpflicht, da wichtig für Menschen mit Immunschwäche
- Mehr als einen Wagen mit Rollstuhlplätzen pro Zug
- Keine neuen Züge mit Stufen bestellen
- Blindenleitsystem ohne Hindernisse, wie z. B. Mülleimer
- Mehr Sitzgelegenheiten an Bahnhöfen
- Ausbau: Mehr Platz, mehr erreichbare Orte, direktere Verbindungen
- Möglichst kostenfrei (z. B. 9-Euro-Ticket)
Weil Menschen verschieden sind und sich nicht allen Menschen dieselben Barrieren stellen, ruft die Gruppe andere von Ableismus Betroffene dazu auf, zu ergänzen, was die Barrieren, die sich ihnen bei Zug oder Bahnfahrten stellen, abbauen könnte. Von Barrierefreiheit würden alle profitieren. Inbesondere auch Menschen mit Kinderwagen und schwerem Gepäck.
Rollfender Widerstand – Direkte Aktion gegen Barrieren