Die französische Nationalversammlung hat am gestrigen Tag, nach dem Senat vergangene Woche, die Verlängerung der Notstandsgesetzgebung bis Ende Juli 2016 beschlossen. Der Ausnahmezustand gilt also weiterhin und die Willkür geht weiter. Ob DemonstrantInnen gegen die Arbeitsreform oder Atomkraftgegner die gegen das neue Endlagergesetz kämpfen, viele bekommen dies zu spüren.
Jüngste Nachrichten aus dem Willkürstaat: Der französische Staat traut sich nicht – wie bei der COP im November 2015 – die Demonstrationen gegen die Arbeitsreform zu verbieten. Das Gesetz sieht massive Verschlechterungen von Arbeitsbedingungen vor. Anders als bei Umweltprotesten gehen in Frankreich traditionell Hunderttausende von Menschen auf die Strasse, wenn es um sozialen wie Renten oder auch Arbeitsmarktreformen Belangen geht. Solche Massenproteste können praktisch nicht verboten werden. Der französische Staat greift also zu anderen Mittel, um die Menschen einzuschüchtern. Das Gesetzt wird mit dem § 49-3 durchgesetzt, um die parlamentarische Debatte und Änderungsanträge aus dem Weg zu gehen. Die Regierung sagt, sie wird ihr Vorhaben nicht aufgeben, die Menschen sagen, sie werden die Straße solange nicht verlassen bis das Gesetz zurück genommen wird. „Nuit debout“ ist zum Symbol des Widerstandes geworden (1). Die französische Regierung versucht die Menschen einzuschüchtern und zur Aufgabe des Protestes zu bewegen. Zum Beispiel durch Polizeigewalt und willkürliche Verhaftungen. Demonstrationen gegen Polizeigewalt werden wiederum durch die Präfektur verboten – wie zum Beispiel am 18. Mai – Polizeigewerkschaftler durften dagegen unbehelligt gegen den „ Anti-Bullen-Hass“ demonstrieren (2).
Es gibt viele Gründe, gegen die Polizeigewalt zu demonstrieren, die unter dem Einfluss der Notstandgesetze immer heftiger und unkontrollierter wird. Die Polizei wendet diverse Granaten sowie sogenannte LBD-Waffen (Gewehre mit Gummigeschossen von 40mm Kaliber ; zweite Waffe auf dem Bild unten , die Geschosse sind auf dem weiteren Bild zu sehen). Zahlreiche Menschen wurden schwer verletzt und haben zum Beispiel ein Auge verloren, weil die Polizei ins Gesicht aus geringer Entfernung geschossen hat. Die Gewehre haben einen Bogen damit nicht auf den Oberkörper gezielt wird. Die Beamten drehen aber das Gewehr um und nutzen diese entgegen dieser Bestimmung um auf dem Kopf der Menschen in Menschenmengen zu zielen. Über die Waffen der französischen Polizei habe ich hier schon ein paar male berichtet (3). Schwere Verletzungen nun gar Todesfälle werden somit bewusst in Kauf genommen. Die Menschen gehen trotz der Polizeigewalt auf die Strasse. Und da wird zu weiteren Einschüchterungs- und Repressionsmitteln gegriffen. Polizeibekannte Menschen, angebliche Autonomen, wird einfach ein Aufenthaltsverbot bis zum Ende des „Notstandes“ für die Bezirke wo Demonstrationen statt finden, ausgesprochen (4). Begündet mit der Notstandgesetzgebung. Über 50 Personen sind betroffen. Es hat bei diversen Demonstrationen Ausschreitungen gegeben. Doch es gibt keinerlei Beweis, dass die Menschen, die nun Aufenthaltsverbote erhalten, daran beteiligt waren. Viel mehr trifft die Maßnahme Menschen, die dem Polizeistaat ein Dorn im Auge sind, weil sie die Notstandgesetzgebung und oder die Polizeigewalt öffentlich kritisieren. So zum Beispiel Pierre Douillard-Lefèvre aus Nantes (5). Er hat als Schüler 2007 auf einer Demonstration ein LBD-Geschoss ins Auge abbekommen und ist seitdem auf ein Auge blind. Er hat inzwischen mit anderen von Polizeigewalt betroffenen Menschen geredet und einen Verein gegen Polizeigewalt mitgegründet. Sein Buch „L’arme à l’oeil“ (wörtlich übersetzt „die Waffe am/im Auge“, die Redewendung bedeutet „die Waffe in Anschlag nehmen“; die Überschrift ist zugleich eine Anspielung auf die Tatsache, dass auf dem Kopf geschossen wird und dadurch zahlreiche Menschen u.a. am Auge schwerverletzt wurden) ist in diesem Frühjahr erschienen. Welch ein Zufall, dass er nun ein Aufenthaltsverbot erhalten hat! Selbst ein Pressefotograf hat einen Aufenthaltsverbot erhalten. Die Berichtserstattung stört den Polizeistaat. Die Notstandgesetzgebung dient offiziell der Terrorismusbekämpfung. Während der COP wurde sie gegen UmweltaktivistInnen angewendet (6) und nun wird sie gegen Menschen, die gegen die Arbeitsrechtsreform protestieren, genutzt. Noch Fragen?
Bild: Polizisten in zivil auf einer Demo gegen die Arbeitsreform in Nantes am 9. April 2016
Quelle: Reporterre
Die meisten Aufenthaltsverbote wurden inzwischen durch ein Verwaltungsgericht aufgehoben. Das französische Recht sehe keine personenbezogenen Demonstrationsverbote vor, es sei unzulässig dies durch Aufenthaltsverbote umzugehen und dadurch faktisch ein Demonstrationsverbot auszusprechen, so die Richter. (4)
Die Notstandgesetzgebung und die Polizeigewalt vergiften das gesellschaftliche Klima in Frankreich. Es geht so weit, dass selbst die UN Alarm schlägt. Im vor wenigen Wochen veröffentlichten Bericht zur Situation der Menschenrechte und zur Abwehr von Folter und folterähnlichen Behandlungen in Frankreich wird der Polizeigewalt und der Notstandgesetzgebung – neben der untragbaren Asylpolitik Frankreichs – großem Raum anberaumt. Das Komitee gegen Folter macht sich über die Grundrechtseinschränkungen, die den Zweck der Terrorbekämpfung nicht erfüllen, Sorgen. Auch die Tatsache, dass zahlreiche Menschen durch Polizeigewalt verletzt werden und kaum eine Möglichkeit haben, sich juristisch dagegen zu wehren, sei nicht hinnehmbar. Straffreiheit für die Verantwortlichen Beamten führt zu noch mehr Gewalt und Ausraster, so das Komitee. (7). Der UN-Bericht ist leider noch nicht auf Englisch verfügbar.
Bild: LBD-Gummigeschosse – eingesammelt in Nantes am 22. Februar 2014 nach einer Demo – 3 Menschen haben dadurch ein Auge verloren.
Die Willkür trifft nicht nur auf Menschen, die gegen die Arbeitsreform kämpfen.
Ich berichtete vergangenen Woche über das Vorhaben der Regierung, das Atommüllendlager in Bure unter dem Deckmantel der Forschung zu genehmigen (8). Das Gesetzt hat inzwischen den Senat passiert. AtomkraftgegnerInn die am vergangenen Sonntag in Paris dagegen protestierten, bekamen zu spüren wie mit oppositionellen Menschen im Land der Menschenrechte umgegangen wird.
Der Verein Sortir du Nucléaire hatte zu symbolischen Aktionen aufgerufen, indem Müllsäcke mit radioativ Zeichen vor der Tür der diversen Senat-abgeordneten abgelegt werden sollten, verbunden mit einem plakatierten Aufruf, das Gesetz nicht durchgehen zu lassen. Eine an sich harmlose Aktion. Aber in den Augen des Staats war das scheinbar nicht so harmlos. Acht AktivistInnen wurden am vergangenen Sonntag bei dieser Aktion in Paris für 20 Stunden in Gewahrsam genommen. In einem Artikel auf „Reporterre“ (9) werden die Haftbedingungen geschildert: 5 Menschen in einer 8 Quadratmeter großen Zelle. Schlafentzug durch ein 4-stündiges Verhör mitten in der Nacht, obwohl die Eingesperrten keine Aussage machen wollten. Das Verhör war gepickt von zahlreichen Erniedrigungen und Verherrlichung von Polizeigewalt: „du, der Anarchist, du läufst schnell weg, wenn wir die Demonstrationszüge angreifen! Die Demos solltest du jetzt genießen, 2017 gibt es keine mehr“. Oder „Du stinkst, du bist hässlich, das läuft sicher nicht gut, mit den Mäddels“ und homophoben Parolen. Grundrechte wie das Recht einen Arzt oder einen Anwalt zu sprechen wurden die ganze Nacht über nicht eingehalten.
Es war kein Einzellfall. Erlebnisberichte dieser Art häufen sich.
Darum ist es mir wichtig, über diese Tatsachen hier zu berichten, um dafür etwas mehr Öffentlichkeit zu schaffen.
Auch geht der Widerstand gegen das Endlagerprojekt in Bure weiter. Die Menschen freuen sich über tatkräftige Unterstützung. Über dezentrale Aktionen auch hier zu lande sowie über eine Beteiligung an der Marsch der 200 000 Schritte in Bure am 5. Juni. (10) Hier geht es zum Bilderbericht der gleichen Demo vor einem Jahr.
Bure ist nur ca. 120 Kilometer von der Deutschen Grenze en
tfernt. Für viele Menschen, die ins Wendland zum Protest gegen das geplante Atommüllendlager fahren, ist Bure tasächlich näher als Gorleben! Widerstand muss über die Grenzen hinaus bestehen!
(1) zu „Nuit Debout“ siehe auch GWR 409 (Deutsch) http://www.graswurzel.net/409/nuit.php
(2) Siehe in „Le Monde“ (Französisch) http://www.lemonde.fr/police-justice/article/2016/05/18/la-contre-manifestation-du-collectif-urgence-notre-police-assassine-interdite-par-la-prefecture-de-paris_4921268_1653578.html
(3) Siehe: Die Militärpolizei und ihre Waffen ; Zum Tod von Rémi Fraisse ; Ein Jahr nach dem Tod von Rémi Fraisse
(4) Siehe Bericht von Reporterre (Französisch) : http://reporterre.net/Le-gouvernement-se-sert-de-l-etat-d-urgence-pour-empecher-la-contestation-de-la
(5) Siehe das sehr gute Interview von Reporterre mit Pierre Douillard-Lefèvre (französisch): http://reporterre.net/La-doctrine-de-maintien-de-l-ordre-a-change-L-objectif-est-maintenant-de
(6) Siehe: Bericht aus dem November 2015 in diesem Blog
(7) Quelle (Französisch): http://reporterre.net/L-ONU-s-inquiete-des-violences-policieres-commises-en-France und http://tbinternet.ohchr.org/Treaties/CAT/Shared%20Documents/FRA/INT_CAT_COC_FRA_23916_F.pdf
(8) Siehe: http://blog.eichhoernchen.fr/post/Bure-neuer-Versuch-der-Genehmigung-eines-atomaren-Endlagers-unter-dem-Deckmantel-der-Forschung
(9) Siehe Artikel von Reporterre (Französisch):http://reporterre.net/Vingt-heures-de-garde-a-vue-pour-des-anti-nucleaires-munis-de-sacs-poubelles
(10) Siehe: http://100000pasabure.over-blog.com/
Weitere Informationen
Zum Notstand:
– Tag Notstand auf diesem Blog (Etat d’urgence)
– Aufsatz vom Rechtsstaat zum Sicherheitsstaat
Zu Bure:
– Mein Dossier auf Deutsch über Bure
– Tag « Bure » auf diesen Blog
– VMC (Camp Orga vom letzten Sommer, es wird weiter über den Widerstand berichtet)
Artikel auf Französisch mit zahlreichen Bildern über die "grenades de désencerclement" also die gefährlichen Granaten, die die französische Polizei theoritisch nur defensiv nutzen darf, jedoch ständig offentsiv nutzt:
https://paris-luttes.info/suite-au-1er-mai-autopsie-de-la-5556