Alptraum Bahnfahrt: Hindernisse und ein brutaler Rauswurf

GWR-Interview mit Cécile Lecomte zu Ableismus bei der Deutschen Bahn

eine Person wird durch Polizeibeamten aus einem Zug gezerrt, die beamten haben sie an den Armen gepackt, sie wurd durch die Einstiegstür und Treppe geschleift. Es gibt 3 Fotos die nebeneinander sind, also eine Collage.

Interview zu meinem ICE Rauswurf vom Sommer aus GWR 473, November 2022 mit Schwerpunkt #BarrierenBrechen (es gibt auch ein Video dazu), Artikel als PDf

Interview mit Cécile Lecomte zu Ableismus bei der Deutschen Bahn

Immer wieder sorgt die Deutsche Bahn (DB) durch fehlende Barrierefreiheit für Schlagzeilen – aber selten kommt es zu einem derart gewaltförmigen ableistischen Vorfall wie Anfang August 2022, als das Bahnpersonal die Polizei beauftragte, die GWR-Mitherausgeberin Cécile Lecomte samt ihrem Rollstuhl brutal aus dem Zug zu werfen. Im Gespräch mit der Graswurzelrevolution schildert die Aktivistin dieses Ereignis, aber auch ihre täglichen Erfahrungen mit dem strukturellen Ableismus der Deutschen Bahn. (GWR-Red.)

GWR: Am 1. August 2022 wurdest du am Bahnhof Göttingen von Polizeibeamten brutal aus dem ICE geschleift. Was war passiert?

Cécile Lecomte: Es gab einen Konflikt um den Platz für meinen Rollstuhl in einem ICE, und ich habe die Einschränkungen meiner Rechte nicht schweigend hingenommen, sondern die mangelhafte Barrierefreiheit der Deutschen Bahn kritisiert. Und das gefiel einer Reisenden und einer Zugchefin nicht.
Ich war in Darmstadt mit privat organisierter Unterstützung in den ICE gekommen, da die Deutsche Bahn die Einstiegshilfe für mich und meinen Rollstuhl mit Hublift mangels Personal abgelehnt hatte. Nur der Rollstuhlplatz konnte reserviert werden. In Frankfurt Süd stieg mein Begleiter zu. Wir hatten uns lange nicht gesehen und haben uns unterhalten. Eine Reisende beschwerte sich darüber, da wir uns im „Ruhebereich“ befanden.
Ich erwiderte, dass ich keinen „Ruhewagen“-Platz gebucht habe, es sei aber der einzige Wagen im ICE Modell T, in den ich mit meinem Rollstuhl einsteigen dürfe. Sie könne einen anderen Ruhebereich aufsuchen. Ich könne dagegen den Wagen nicht wechseln und wolle mir nicht die Unterhaltung verbieten lassen, ich habe den strukturellen Ableismus der Bahn satt und wolle diesen Umstand nicht immer ausbaden. Das Bahnfahren sei für Menschen mit Rollstuhl ein Dauerkampf gegen Barrieren, um überhaupt mitfahren zu können. Wenn der Rollstuhlplatz im Familienbereich ist, darf ich ja auch nicht um Ruhe bitten.
Wir haben uns nicht lange unterhalten, denn ich habe mich in Marburg wegen Rückenschmerzen hingelegt. Mit dem Körper halb unter Sitz und Tisch und auf dem eigentlichen Rollstuhlplatz. Mein Rollstuhl stand neben der Toilette, weil er dort nicht im Weg steht wie auf dem eigentlichen Rollstuhl-„Platz“, der in diesem ICE-Modell so schmal ist, dass der Rollstuhl halb vor der Schiebetür steht und durch vorbeilaufende Menschen mit ihren Koffern beschädigt wird. Ich kenne andere Menschen mit Behinderung, die sich gelegentlich hinlegen müssen, weil sie so wie ich Schmerzen haben, behinderungsbedingt.

Damit hätte doch eigentlich alles beendet sein können. Wie ging es dann weiter?

Das alles wurde durch das vorbeilaufende Personal nicht beanstandet, bis in Kassel eine Frau mit doppeltem Kinderwagen zustieg und ich geweckt wurde.
Zwischen uns Fahrgästen gab es hier eigentlich keinen Streit. Menschen mit Koffern konnten noch durch, aber die Zugchefin war der Auffassung, dass es nicht gehe. Ich wurde – ohne zuvor gefragt worden zu sein, warum ich liege, ob es mir gut geht – aufgefordert, aufzustehen und den Platz für den Kinderwagen freizumachen.
Dies habe ich abgelehnt mit der Erklärung, dass nicht ich oder mein Rollstuhl im falschen Wagen eingestiegen sind, sondern die Frau mit Kinderwagen, die durch die DB falsch informiert wurde und selbst für die ungünstige Situation nichts könne. Ich äußerte, Schmerzen zu haben und mich für den Kinderwagen nicht verantwortlich zu fühlen. Der Kinderwagen sei zudem viel zu groß, würde nicht einmal durch die Schiebetür passen. Die Zugchefin solle doch dafür sorgen, dass der Kinderwagen zum dafür vorgesehenen Platz kommt.
Es wurde mit der Polizei gedroht, weil ich „unkooperativ“ sei und mein Recht mitzufahren deshalb verwirkt habe. Ich erwiderte, ich sei der Auffassung, dass die Verstöße der Bahn gegen die Vorschriften der Barrierefreiheit – hier ganz konkret der zu schmale Rollstuhlplatz – und gegen die UN-Behindertenrechtskonvention sicherlich schwerer wiegen als mein „Unkooperativsein“, meine Weigerung, nach ihrer Pfeife zu tanzen.
Die Zugchefin verschwand. In der Zeit bis Göttingen lösten die Fahrgäste das Kinderwagenproblem unter sich. Die Frau ging mit ihren zwei Kindern zum Fahrradwagen, um zu gucken, ob Platz sei, und das war der Fall – der Zug war nicht überfüllt. Meine Begleitung und ein weiterer Fahrgast erklärten sich bereit, den Kinderwagen beim nächsten Halt in Göttingen aus dem Zug zu tragen und zum Fahrradabteil zu bringen. So geschah es auch, sodass ich der Auffassung war, das Problem sei nun gelöst und alles gut. Die Situation war ja wieder wie vor dem Einstieg der Frau mit Kinderwagen, die zuvor nicht beanstandet worden war.

Die Zugchefin bestand aber auf deinem Rauswurf: Du wurdest des Zuges verwiesen, obwohl das Kinderwagenproblem gelöst war, richtig? Wie war die Situation für dich?

Richtig. Das haben weder ich noch mein Begleiter in dem Moment verstanden. Mein Begleiter war sogar weg, er unterstützte den Umzug des Kinderwagens, als die Polizei einstieg. Die Polizei trug gegen meinen Willen meinen Rollstuhl aus dem Zug – wohlgemerkt nicht sachgerecht – und forderte mich auf „aufzustehen“. Es war Dienst nach Vorschrift: Die Zugchefin habe das Hausrecht, weshalb ich den Zug verlassen müsse. Ob ich anschließend hilflos dastehe ohne Möglichkeit, von dem fremden Bahnhof wegzukommen, interessierte sie nicht.
Es gab keine Ausstiegshilfe, obwohl ein solcher Hublift am Bahnsteig vorhanden gewesen wäre. Es wurde „Zwang“ angewendet, was ich Gewalt nenne. Ich wurde an den Gelenken, die aufgrund meiner chronischen rheumatischen Erkrankung schmerzen, angefasst und unsanft durch den Zug, über Stufen und Bahnsteig geschleift. Kein besonders behindertengerechter Ausstieg!
Ich saß dann auf einem Bahnsteig in einer fremden Stadt ohne einen Plan, wie ich ohne Mobilitätshilfe weiterkomme. Die Buchung von Ein- und Ausstiegshilfe sowie die Reservierung eines Rollstuhlplatzes sind spontan bei der Deutschen Bahn nicht möglich – das geht nur mit Voranmeldung mindestens einen Tag zuvor. Die Zugchefin und die Polizei wussten mit Sicherheit um diesen Umstand.
Ich saß am Bahnsteig zunächst aufgewühlt, wütend und verzweifelt. Die Polizei ist, nachdem sie selbst feststellte, dass keine Straftat zu verfolgen ist, und viele Reisende auf dem Bahnsteig ihre Maßnahme kritisierten, abgezogen. Ich hatte Glück im Unglück. Der Anschlusszug, den ich in Hannover hätte nehmen müssen, fuhr über Göttingen. Ich konnte mit Hilfe von meiner Begleitung und von Fahrgästen einsteigen. Dort traf ich auf einen freundlichen, verständnisvollen Schaffner: „Der Kollegin fehlt die soziale Kompetenz, das geht gar nicht klar“, sagte er.

Du hast danach ein Handy-Video des Rauswurfs und verschiedene Artikel dazu veröffentlicht. Wie war die öffentliche Resonanz – von Medien oder von anderen von Ableismus Betroffenen?

Das Video sorgte in sozialen Medien für große Empörung: Darin ist nämlich zu sehen, wie ich von der Polizei aus dem Zug gezerrt wurde. Natürlich gab es auch eine Reihe ableistischer Kommentare, à la „Behinderte sollen still sein, sich nicht beschweren, zu Hause bleiben oder froh sein, dass man für sie den Aufwand mit Ein- und Ausstiegshilfe betreibt und sie überhaupt mitfahren dürfen“.
Teilhabe und Inklusion sind aber unverhandelbare Grundrechte! Andere von Ableismus Betroffene sehen es genauso und haben in meiner Geschichte die Probleme, mit denen sie jedes Mal konfrontiert werden, wiedererkannt.

Für die Deutsche Bahn ist das ja nicht gerade gute Presse. Hat die Bahn sich entschuldigt oder sonst irgendwie reagiert?

Die Bahn hat mich um Mithilfe bei der Aufklärung des Vorfalles gebeten. Ich habe dazu Stellung genommen. Seitdem hat sie sich nicht mehr gemeldet, sondern – wie auch die Bundespolizei – via Presseberichten Täter-Opfer-Umkehr und Victimblaming betrieben. Es wird gesagt, ich sei im Grunde genommen selbst schuld am Rauswurf gewesen. Ich sei „aggressiv“, „unkooperativ“, selbstdarstellerisch gewesen. Weil ich nicht der Erwartung, dem Stereotyp der Behinderten, die Einschränkungen stillschweigend akzeptiert, entspreche. Abgesehen davon, dass Begriffe wie „aggressiv“ mehr Wertung als Wahrheit sind, wird sich nicht damit auseinandergesetzt, weshalb es zum Konflikt kam, und mit der eigenen Verantwortung von Bahn und Polizei in der Eskalation.
Die Bundespolizei suggerierte sogar, ich habe den Rausschmiss absichtlich herbeigeführt, indem sie mir unterstellte, Bilder für eine Kampagne produzieren zu wollen – diese Unterstellung kam im Nachhinein, als die Polizei erfuhr, wer die Rollstuhlfahrerin ist. Ausgerechnet gegen die Bundespolizei Nord klage ich in mehreren Verfahren gegen ihre Überwachungsmaßnahmen, die sie mit meinem politischen Engagement begründet.
Ich bin inzwischen gegen diese Unterstellung rechtlich vorgegangen – mit Erfolg: Die Bundespolizei darf die Aussage nicht wiederholen; sie hat die Unterlassungserklärung unterschrieben. Dafür dachte sie sich eine neue Dreistigkeit aus und schickte mir im Oktober einen „Gebührenbescheid“ für diese „polizeiliche Maßnahme“: 82 Euro soll ich für die ableistische Gewaltanwendung zahlen.
Mehrere Medien (u. a. Göttinger Tageblatt) haben die Rechtfertigung von Bahn und Bundespolizei zu meinem Fall unkritisch abgedruckt – obwohl diese Partei sind und die Polizei sicher keine „neutrale“ Informationsquelle ist. Das ist kein professioneller Journalismus. Einzig die taz hat sich bislang bei mir für Rückfragen persönlich gemeldet und sich um eine ausgewogene Berichterstattung bemüht.

Das war ja keineswegs das erste Mal, dass du mit der fehlenden Barrierefreiheit der Bahn konfrontiert warst. Was sind aus deiner Sicht die krassesten Hürden, denen Rollstuhlfahrer*innen ausgesetzt sind?

Ich fahre oft Bahn. Das will ich auch, ich will kein Auto fahren. Das ist im Sinne einer ökologischen Mobilitätswende. Aber diese kann nur dann gelingen, wenn ALLE mitfahren können, wenn diese inklusiv gestaltet wird, Menschen mit Behinderung teilhaben.
Ich habe aber das Gefühl, dass Menschen mit Behinderung für die Bahn Fahrgäste dritter Klasse sind (zwei Klassen gibt es ja schon) und als Last, nicht als Fahrgäste, betrachtet werden. So klingen auch manchmal die Durchsagen der Bahn: „Die Abfahrt des Zuges verzögert sich aufgrund eines Rollstuhls“. Nö, die Verzögerung ergibt sich aus mangelnder Barrierefreiheit, Stufen sind im Weg!
Aber in den Augen der Bahn ist alles in Ordnung, wie es ist: Sie setzt weiter auf den Stufen-ICE. Denn es gibt ja einen MobilitätsSERVICE, Betroffene sollen sich dafür bedanken, und der Öffentlichkeit wird vorgegaukelt, damit sei Barrierefreiheit gewährleistet. Dem ist nicht so, denn ich darf oft nicht mitfahren, weil der „Service“ nicht rund um die Uhr gewährt wird, nicht überall. Weil oft Personal fehlt. Weil die Infrastruktur defekt ist. Das einzige Universal-WC ist oft außer Betrieb, die Tür zum einzigen Rollstuhlwagen ist manchmal defekt, der Rollstuhlwagen fehlt, oder der Platz ist bereits gebucht.
Es muss sich grundsätzlich was ändern! Barrierefreie Infrastruktur muss her (Züge, Bahnhöfe, Redundanz, also nicht nur einen Wagen mit Rollstuhlplatz), mehr Personal, Schulung des Personals zu Ableismus … Nicht nur Lippenbekenntnisse und Sich-selbst-Feiern für kleine Dinge und dies als Marketing nutzen, obwohl die Realität anders ist. Das ist leider die aktuelle Politik der Bahn, wenn sie mit „diversity“ wirbt …

Um das durchzusetzen, muss noch einiges an Druck erzeugt werden. Es ist super, dass sich Betroffene einzeln und kollektiv dagegen wehren – und Nichtbetroffene müssen diesen Kampf unterstützen. Vielen Dank für das Interview!

Interview: Silke