Cannabis als Medizin …

 und das gesellschaftliche Tabu Behinderung

Quelle und Erstveröffentlichung:  GWR 416, Februar 2017

Der Bundestag hat am 19. Januar 2017 einstimmig ein für schwer kranke Menschen wichtiges Gesetz verabschiedet. Schmerzpatient*innen und chronisch kranke Menschen, bei denen keine konventionelle Therapie hilft, erhalten künftig medizinisches Cannabis auf Rezept. GWR-Mitherausgeberin Cécile Lecomte wirft einen kritischen Blick auf die Gesundheitspolitik und das neue Gesetz – aus einer Betroffenen-Perspektive. (GWR-Red.)

„Warum humpelst du? Hast du dich verletzt?“, werde ich häufig gefragt. Meine Behinderung passt nicht so wirklich ins Bild der Kletteraktivistin, die den Klimakillern auf’s Dach steigt. Viele kennen mich als Polit-Kletter-Aktivistin und können sich kaum vorstellen, dass ich – zumindest im Sinne der Horizontal-Gesellschaft – schwerbehindert bin. Noch verdutzter reagieren Polizeibeamt*innen, wenn ich nach einer erfolgreichen Kletteraktion erstmal nach meinen Arthritis-Gehstützen greife, um den Beamt*innen folgen zu können und später bei einer Ingewahrsamnahme auf die Aushändigung meiner Hanfkekse bestehe.

 und das gesellschaftliche Tabu Behinderung

Quelle und Erstveröffentlichung:  GWR 416, Februar 2017

Der Bundestag hat am 19. Januar 2017 einstimmig ein für schwer kranke Menschen wichtiges Gesetz verabschiedet. Schmerzpatient*innen und chronisch kranke Menschen, bei denen keine konventionelle Therapie hilft, erhalten künftig medizinisches Cannabis auf Rezept. GWR-Mitherausgeberin Cécile Lecomte wirft einen kritischen Blick auf die Gesundheitspolitik und das neue Gesetz – aus einer Betroffenen-Perspektive. (GWR-Red.)

„Warum humpelst du? Hast du dich verletzt?“, werde ich häufig gefragt. Meine Behinderung passt nicht so wirklich ins Bild der Kletteraktivistin, die den Klimakillern auf’s Dach steigt. Viele kennen mich als Polit-Kletter-Aktivistin und können sich kaum vorstellen, dass ich – zumindest im Sinne der Horizontal-Gesellschaft – schwerbehindert bin. Noch verdutzter reagieren Polizeibeamt*innen, wenn ich nach einer erfolgreichen Kletteraktion erstmal nach meinen Arthritis-Gehstützen greife, um den Beamt*innen folgen zu können und später bei einer Ingewahrsamnahme auf die Aushändigung meiner Hanfkekse bestehe.


Auf Fragen reagiere ich oft gereizt, ich habe nicht jeden Tag Lust meine Situation zu erläutern und mich zu rechtfertigen. Nur wenige Menschen können sich vorstellen, was es heißt, mit einer chronischen Krankheit zu leben, dass man nicht von heute auf morgen wieder gesund wird. Und bei Rheuma kommt das Vorurteil, dass es nur alte Menschen treffen würde, hinzu. Mit Rheuma sind aber alle Krankheiten des Bewegungsapparates gemeint. Ich leide an Polyarthritis, das ist eine Auto-immun-Krankheit, die sich durch eine chronische Entzündung und Zerstörung der Gelenke manifestiert. Die Krankheit kann sowohl Erwachsene als auch Kinder treffen.
Sie hat mein Leben auf den Kopf gestellt, als ich vor elf Jahren als 24-Jährige erkrankte. Sie ist zermürbend: Dauerschmerz, Fatigue Syndrom, Bewegungseinschränkung, etc.
Dieser Zustand hat psycho-soziale Folgen, die nicht außer Acht gelassen werden dürfen. Wenn man früher ein anderes Leben geführt hat, fällt es einem schwer sich auf die neue Situation einzustellen. Es fällt mir schwer, das Fortschreiten der Krankheit zu akzeptieren, zu akzeptieren, dass ich nicht mehr Felsklettern und Bergsteigen kann wie früher. Ohne die Hilfsmittel, die ich mir zu Hause besorgt habe, fühle ich mich hilflos. Ich fühle mich in einfachen alltäglichen Situationen unwohl: Beim Kochen bei FreundInnen, wo ich ohne spezielles  Messer nicht mitschnibbeln kann.
Ausgerechnet Menschen, die es auf Grund einer Behinderung oder schwerer Krankheit im Alltag schwer haben, müssen zusätzlich gegen eine Gesellschaft ankämpfen, die für sie bestimmen will, was für sie gut ist oder schlecht.
Der Bundestag hat im Dezember 2016 ein neues Teilhabegesetz, das sich insbesondere auf die Rechte pflegebedürftiger Menschen auswirkt, verabschiedet. Behindertenverbände waren im Gesetzgebungsprozess kaum involviert und mussten ihren Protest lautstark auf die Straße tragen, damit das neue Gesetz für sie keine Verschlechterung ihrer Situation bedeutet. Die Betroffenen werden nicht als Akteur*innen wahrgenommen, der Staat entscheidet bevormundend für sie. Nicht das Wohlbefinden von Menschen lenkt seine Entscheidungen, sondern marktwirtschaftliche Interessen.
Das ist meine Erfahrung mit dem Gesundheitssystem. Ich kann mich glücklich schätzen, in einem Land zu leben, wo Menschen einen relativ einfachen Zugang zur gesundheitlichen Grundversorgung haben. Es ist jedoch kein Grund, nicht auf die Missstände des Systems aufmerksam zu machen.

Die kaputte Maschine

Als mein Rheumaarzt mir vor drei Jahren vorschlug, mein Rheuma im Krankenhaus behandeln zu lassen, habe ich abgelehnt. Mein Kuraufenthalt von 2012 kam mir sofort in Erinnerung. Ich hatte dort den Kontakt zu anderen Betroffenen geschätzt. Der Kuraufenthalt an sich hatte mir aber so gut wie nichts gebracht. Es war eine Art Massenabfertigung ohne Beachtung des Einzelfalles. Diese ist aber bei meiner Krankheit notwendig. Polyarthritis entwickelt sich bei jeder betroffenen Person anders. Zu den Pflichtveranstaltungen gehörte ein Vortrag des Kostenträgers, die Rentenversicherung. Der Diskurs blieb mir im Hals stecken. Rehabilitation war das Zauberwort. Damit die Menschen so lange wie möglich produktiv auf dem Arbeitsmarkt verfügbar bleiben. Mensch fühlte sich ein bisschen wie eine kaputte Maschine, die sich vorübergehend in der Reparatur befand.

Der Patient als Objekt

Weil meine Beschwerden immer schlimmer wurden, musste ich dann doch ins Krankenhaus. Dort habe ich erlebt, wie die Logik des Profits die Menschen zum Objekt und erst recht krank machen kann. Das System Krankenhaus hat Ähnlichkeiten mit dem Gefängnis.
Die Umgebung vermittelt einem, dass er/sie wirklich krank ist. Es ist alles weiß, eintönig, reizarm.
Die menschlichen Kontakte werden auf das Nötigste begrenzt, selbst das Essen wird auf das Zimmer gebracht. Mensch wird täglich um 6:45 Uhr morgens geweckt: Die Schwestern kommen rein und machen ohne Warnung das grelle Neonlicht an: Blutdruck, Zucker, Puls messen. Der Patient ist ein Objekt, der Fall wird abgearbeitet. Es wird nicht erklärt, weshalb diese Untersuchungen systematisch bei allen Patient*innen durchgeführt werden. Wenn ein Patient Blutdruckprobleme hat, kann das sinnvoll sein, wenn man aber schon einmal festgestellt hat, dass es keine Probleme gibt? Das gehört zum Protokoll, zur Massenabfertigung. Warum dies so früh am Morgen passieren muss, wurde nicht erklärt. Zu Polyarthritis gehört die Morgensteifigkeit, ein Grund weshalb ich morgens gerne ausschlafe und erst aufstehe, nachdem die Schmerzen nachgelassen haben. Bemerkenswert, dass dies ausgerechnet in der Rheumaabteilung keine Berücksichtigung findet. Nach dem frühen Besuch passiert erstmal nichts. Die Langeweile beginnt. Im Laufe des Nachmittags wird man zu zwei bis drei Untersuchungen gerufen. Die Termine stehen auf einem Zettel. Die Ärzte lassen sich kaum blicken. Am Mittag oder frühem Nachmittag ist dann Schluss, Feierabend. Der Patient soll selber wissen, wie er sich irgendwie beschäftigt. Die durchgeführten Untersuchungen hätten innerhalb von zwei,  drei Tagen durchgeführt werden können. Statt dessen musste ich eine Woche bleiben, 80% der Zeit passierte nichts. Die Anzahl der Tage ist für die Klinik von Bedeutung. Daran verdient sie ihr Geld!
Es wird einerseits viel Geld aus dem Fenster geschmissen und gleichzeitig den Betroffenen das Leben schwer gemacht.
Pharmakonzerne haben die Gesundheitspolitik fest im Griff. Sie wollen ihre teuren Präparate verkaufen und das Gesundheitssystem ist drauf ausgerichtet. Ich erhalte so viel Schmerzmittel wie ich will. Diese verursachen Nebenwirkungen ohne Ende. Die Versorgung mit Hilfsmitteln, die es mir ermöglichen die Einnahme von Schmerzmitteln in Grenzen zu halten, ist dagegen nicht kostenlos gewährleistet. Hilfsmittel für den Alltag muss ich selbst bezahlen, Bandagen und Orthesen erhalte ich nur in begrenzter Anzahl und sie werden mir nur zum Teil durch die Krankenkasse erstattet. Schmerzmittel sind teurer als Hilfsmittel. Erstattet werden jedoch nur die Tabletten.

Cannabis als Medizin

Nach jahrelangem Kampf gegen die Schmerzen bin ich seit 2016 im Besitz einer Genehmigung für Cannabis als Medizin aus der Apotheke. Der Weg dorthin war lang. Eine Genehmigung bekommt nur wer als „austherapiert“ gilt. Ich habe Therapien und Medikamente probiert, die die Krankenkasse Tausende Euro kosten und erst seit wenigen Jahren auf dem Markt sind. Es sind so genannte Biologika. Es gibt zu den Langzeitnebenwirkungen dieser Therapien, die das Immunsystem stark angreifen, keine Erfahrungswerte. Die Liste der möglichen Nebenwirkungen ist schwindelerregend. Einige Biotherapien gleichen der Krebstherapie. Ich musste die Therapien alle nacheinander abbrechen: wegen fehlender Wirkung oder extremen, zum Teil lebensgefährlichen Nebenwirkungen. Auch Opiate musste ich probieren.
Ich habe bei einem Selbstversuch schnell herausgefunden, dass Cannabisblüten für mich wirksamer und unkomplizierter sind. Die Cannabis-Blüten, die ich aus der Apotheke bekomme, sind vergleichsweise billig und helfen mir gegen die Schmerzen – ohne die furchtbaren Nebenwirkungen von Opiaten. Ich nehme sie abends mit der Nahrung ein und kann somit schmerzfrei einschlafen. Ich nehme eine CBD-reiche Sorte, die auch gegen die Entzündung im Körper hilft. Nicht nur THC gehört zu den wertvollen Wirkstoffen der Pflanze. Der „Spaß“ kostet mich jedoch über 200 Euro im Monat – ich habe dabei das Glück, dass ich nur wenige Gramm im Monat benötige. Nach der bisherigen Rechtslage bin ich nämlich für eine Übernahme der Kosten durch die Krankenkasse nicht krank genug. Die Krankenkasse lehnte meinen Erstattungsantrag mit der Begründung ab, ich müsse mich in einem lebensbedrohlichen Zustand befinden, um einen Anspruch zu haben. Und selbst der Weg zur Genehmigung war sehr teuer, weil ich keinen Kassenarzt gefunden habe, der sich mit Cannabis als Medizin auskannte und die Antragsstellung und die Therapie hätte begleiten können.

Kiffen auf R
ezept?

Dieser Umstand ist der kriminalisierenden Drogenpolitik geschuldet. Bei „Cannabis“ denken viele, insbesondere auch viele Ärzte, an „Drogen“.  Die Wirkstoffe der Pflanze sind kaum erforscht, weil das Thema Drogen tabu ist und weil sich bislang mit Cannabis hierzulande kaum Geld verdienen lässt. Pharmakonzerne würden gerne teure Präparate auf den Markt bringen. Patient*innen berichten jedoch davon, dass sich Cannabis-Blüten in der Regel als wirksamer erweisen als Fertigarzneimittel auf Cannabisbasis.
Das Gesetz, das am 19. Januar 2017 verabschiedet worden ist, ist das Ergebnis eines langwierigen Gesetzgebungsprozesses. Das Mantra „Cannabis ist eine böse Droge“ hat sich in den Köpfen im Laufe der Zeit derart festgesetzt, dass es ein langer Weg ist, von dieser einseitigen Sicht der Sache weg zu kommen. Es gab zahlreiche Widerstände: von der Pharmaindustrie, die kein Interesse an Cannabisblüten hat und gerne teure Präparate verkaufen würde, von Ärzten die sich wenig auskennen und Angst vor „Drogen“ haben.
„Kiffen auf Rezept“, stand in der Zeitung, als der Gesetzesentwurf im Mai 2016 veröffentlicht wurde. Diese Schlagzeile ist irreführend und zeigt, dass sich viele gesunde Menschen nicht in die Situation von Betroffenen hineinversetzen können. Genauso wie bei dem im Sozialgesetzbuch festgeschriebenen Nachteilausgleich für schwerbehinderte Menschen: viele denken, dass wir dadurch privilegiert werden. Ich darf zum Beispiel gegen die Entrichtung einer Wertmarke ÖPNV kostenlos nutzen. Also spare ich viel Geld. Dem ist aber nicht so. Ich verzichte zum einen häufig auf Regionalverbindungen, wenn dies für mich wegen der Umstiege eine zu große Belastung ist. Fernverkehr zahle ich genauso wie „gesunde Menschen“. Wenn abends kein Bus mehr fährt, muss ich ein Taxi bezahlen – gesunde Menschen haben die Wahl und können die Strecke zu Fuß zurücklegen. Meine Krankheit verschlingt derzeit über die Hälfte meines Einkommens. Darum freue ich mich auf das neue Gesetz, das in wenigen Monaten in Kraft treten dürfte.
Es geht bei diesem Gesetz nicht ums Kiffen auf Rezept. Es geht um Schmerzlinderung, um Lebensqualität! Ich kann verstehen, dass Leute mal aus Spaß kiffen wollen, warum nicht. Aber jeden Tag das Zeug nehmen, nein, das ist nicht wirklich meins.
Das neue Gesetz bringt Verbesserungen. Die Krankenkasse übernimmt zukünftig die Kosten der Therapie. Es gibt aber auch negative Punkte. Cannabis aus der Apotheke erhalten nach wie vor nur Patient*innen, die als austherapiert gelten. Die Verschreibung von Morphium, das ein hohes Abhängigkeitsrisiko und üble Nebenwirkungen mit sich bringt, bleibt einfacher als die Verschreibung von Cannabis. Auch ist die Kostenübernahme mit der Erhebung von Daten zum Verlauf der Therapie verknüpft. Wer dies ablehnt, bekommt kein Cannabis auf Rezept. Die Daten werden anonymisiert. Forschungen zu den Wirkstoffen der Pflanze sind bitter notwendig. Darum kann ich diese Regelung nachvollziehen. Unklar ist aber, was mit den Daten genau passiert, wem sie nutzen. Sind wir billige Versuchskaninchen, die es den Pharmakonzernen ermöglichen, billig an Daten zur Entwicklung teurer Präparate zu kommen?
Unklar ist auch, wieviel Widerstand es von Ärzten geben wird, Cannabis zu verschreiben. Der verschreibende Arzt ist für die Überwachung der Therapie zuständig. Nur wenige Kassenärzte kennen sich aus.

Legalize it!

Das Gesetz sehe ich als ersten Schritt zur Enttabuisierung in der Drogenpolitik. Das wird vielen schwer kranken Menschen helfen.
In einem nächsten Schritt sollte der Cannabiskonsum und -Besitz allgemein entkriminalisiert werden! Ich kann nicht nachvollziehen, weshalb es legale und illegale Drogen gibt. Tabak ist nachweislich gesundheitsschädigend, aber legal. Cannabis ist bei Erwachsenen weniger schädlich als Tabak. Und selbst bei Abhängigkeitsproblemen (diese treten bei Cannabis selten auf): die Menschen benötigen Hilfe, um aus dem Drogenteufelskreis heraus zu kommen. Verbote und Knast lösen das Drogenproblem der Gesellschaft nicht! In Frauenknästen sitzen über 50 Prozent eine Strafe im Zusammenhang mit Drogenkonsum und Beschaffungskriminalität ab. Ist das eine „Lösung“ zum Drogenproblem? Nein! Das Verbot hat nur dazu geführt, dass die Substanz tabu und ihr Nutzen kaum erforscht ist. Es ist Zeit, dass sich das ändert.

Cécile Lecomte

Bild oben: Viele Hilfsmittel und medizinisches Cannabis verschlingen über die Hälfte meines Einkommens – Quelle: Eichhörnchen

Solidarität !

Cécile Lecomte ist in der Umweltbewegung engagiert und seit vielen Jahren Autorin und Mitherausgeberin der Graswurzelrevolution.
Sie finanziert ihren Lebensunterhalt über ein Patenschaftssystem der Bewegungsstiftung und freut sich über neue Pat*innen, die ihr Engagement unterstützen. (1)
Und weil ihre Krankheit immer weiter fortschreitet, muss sie zeitnah in eine behindertengerechte Wohnung umziehen. Sie will in ein Wohnprojekt ziehen, das klare linke politische Positionen vertritt und Freiräume umsetzt. Zu diesem Zweck hat sie mit Freund*innen den Verein „Unabhängig, frei und gemeinsam wohnen – Unfug“ gegründet. Das Projekt soll mit dem Mietshäuser-Syndikat realisiert werden. Cécile freut sich über Unterstützung dieses Vorhabens durch die Vergabe von Direktkrediten. (2)

GWR-Red

Anmerkungen:
1) Siehe: www.bewegungsstiftung.de/lecomte.html
2) Nähere Informationen sind auf der Homepage des Vereins zu finden: http://unfug.denknix.de/