EGMR: Ein bisschen Grundrechtsverletzung ist schon okay

Wegen einer andauernden Erkältung und einem Kletterkurs diese Woche bin ich noch nicht dazu gekommen, das Urteil vom EGMR zu meiner Klage gegen meinen Langzeitgewahrsam zu kommentieren. Dies hole ich nun nach.

Der EGMR hat am vergangenen Dienstag 6. Oktober 2015 sein Urteil zu meinem Langzeitgewahrsam beim CASTOR 2008 veröffentlicht. Zur Zulässigkeit eines vorbeugenden polizeilichen Langzeitgewahrsam an sich hat es keine Entscheidung getroffen, mit der Begründung, die Klage sei nicht zulässig weil die 6-monatige Frist zum Einreichen der Klage nicht eingehalten wurde. Das Bundesverfassungsgericht hat zu meiner Verfassungsklage zwei Nichtannahmebeschlüsse verfasst. Ich habe nach Erhalt des letzten Beschlusses Klage eingereicht. Der EGMR sagt nun, ich hätte zu beiden Beschlüssen jeweils innerhalb der 6-monatigen Frist eine Klage einreichen müssen. Mit diesem Trick wurde eine Entscheidung über den eigentlichen Kern meiner Klage abgelehnt. Das Gericht hat nur über die Verletzung von Art. 3 der Menschenrechtskonvention entschieden. Der Tenor: das war alles nicht ganz in Ordnung was da passiert ist, aber ein bisschen Grundrechtsverletzung ist schon okay wenn die Haft nur ein paar Tage andauert. Folglich wiegen die Verletzungen nicht so schwer, dass man die Verletzung von Art 3 EMRK anerkennen würde.

Wegen einer andauernden Erkältung und einem Kletterkurs diese Woche bin ich noch nicht dazu gekommen, das Urteil vom EGMR zu meiner Klage gegen meinen Langzeitgewahrsam zu kommentieren. Dies hole ich nun nach.

Der EGMR hat am vergangenen Dienstag 6. Oktober 2015 sein Urteil zu meinem Langzeitgewahrsam beim CASTOR 2008 veröffentlicht. Zur Zulässigkeit eines vorbeugenden polizeilichen Langzeitgewahrsam an sich hat es keine Entscheidung getroffen, mit der Begründung, die Klage sei nicht zulässig weil die 6-monatige Frist zum Einreichen der Klage nicht eingehalten wurde. Das Bundesverfassungsgericht hat zu meiner Verfassungsklage zwei Nichtannahmebeschlüsse verfasst. Ich habe nach Erhalt des letzten Beschlusses Klage eingereicht. Der EGMR sagt nun, ich hätte zu beiden Beschlüssen jeweils innerhalb der 6-monatigen Frist eine Klage einreichen müssen. Mit diesem Trick wurde eine Entscheidung über den eigentlichen Kern meiner Klage abgelehnt. Das Gericht hat nur über die Verletzung von Art. 3 der Menschenrechtskonvention entschieden. Der Tenor: das war alles nicht ganz in Ordnung was da passiert ist, aber ein bisschen Grundrechtsverletzung ist schon okay wenn die Haft nur ein paar Tage andauert. Folglich wiegen die Verletzungen nicht so schwer, dass man die Verletzung von Art 3 EMRK anerkennen würde.

Die Entscheidung hat der Gerichtshof in einer Pressemitteilung kommentiert und ist auf der Homepage des Gerichtes nachzulesen.

Zu den Hintergründen:

Der Staat definiert nicht die Atomtransporte als Gefahr, sondern die Menschen, die sich dagegen mit kreativen Aktionen engagieren. Dies führte dazu, dass ich 2008 drei Tage vor einem CASTOR-Transport nach Gorleben präventiv „zur Gefahrenabwehr“ für dreieinhalb Tage in einem Polizeikeller eingesperrt wurde. Er wurde mir nichts vorgeworfen, es stand lediglich die Vermutung im Raum, ich würde in einem Baum an der Bahnstrecke klettern demonstrieren wollen, wenn der CASTOR drei Tage später kommen würde – dies könnte unter Umstände eine Ordnungswidrigkeit sein, wenn ich dabei die Bahnanlage betreten würden (was zu CASTOR-Zeiten Tausende von DemonstrantInnen tun…) – für die Aktion anläßlich derer ich damals als einzige  festgenommen wurde (die anderen KletterInnen wurden frei gelassen), wurde ich nicht verurteilt. Die Polizei hatte meine Festnahme schon Anfang 2008 geplant – das ist aus der Akte zu entnehmen -, als ich nach meiner Festnahme am 6. November 2008 vor Gericht „angehört“ wurde, war der Beschluss von Richter Hobro Klatte der meine Ingewahrsamnahme anordnete schon formuliert und gedruckt worden, er wurde vor meinen Augen sodann nach der „Anhörung“ unterschrieben. Die „Anhörung“ war ein Formakt im Schein-Rechtsstaat.
Es folgten dreieinhalb Tage Gewahrsam in zwei verschiedenen Städten (Lüneburg und Braunschweig) bis ich aus gesundheitlichen Gründen frühzeitig entlassen werden musste – weil die Haftbedingungen und der willkürliche Gewahrsam einen Nervenzusammenbruch verursacht hatten.
Ich klagte erfolglos vor deutschen Gerichte gegen die Anordnung des Gewahrsams und die Art und Weise wie ich festgehalten wurde Schwarz auf weiß teilte das Lüneburger Amtsgericht mit, es interessiere sich weder für die Forderungen vom europäischen Komitee gegen Folter und folterähnlichen Behandlungen noch für die Forderungen von Bürgerrechtsorganisationen zu dem Thema interessiere.

Die Entscheidung des Gerichtshofes

Zulässigkeit der Klage

Über die Zulässigkeit des präventivem polizeilichen Gewahrsams zur „Gefahrenabwehr“ an sich entschied das Gericht nicht. Die Klage wurde in diesem Punkt für unzulässig erklärt, weil die sechsmonatige Frist zur Einlegung der Klage vor dem EGMR diesbezüglich nicht eingehalten wurde. Die Klage darf erst nachdem alle Rechtsmittel erschöpft sind eingereicht werden. Ich hatte bis vor dem Bundesverfassungsgericht geklagt und dort eine Verfassungsbeschwerde eingereicht. Diese wurde nicht zur Entscheidung nicht angenommen. Für diese eine Klage erließ das Bundesverfassungsgericht im Abstand von über einem Jahr allerdings zwei Nichtannahmeschlüsse. Der erste Beschluss betraf die Ingewahrsamnahme an sich, der zweite die Haftbedingungen. Die Klage vor dem EGMR wurde erst nachdem der letzte Beschluss vom Bundesverfassungsgericht eingegangen war, eingereicht. Das EGMR vertrat nun der Auffassung, die ich hätte zwei Klagen einreichen müssen, jeweils innerhalb der sechsmonatigen Frist – auch wenn die Klage einen und den selben Vorgang betrifft. Es ist natürlich schade, dass es nun keine Entscheidung in dieser Farge gibt. Meine Ingewahrsamnahme war mit Sicherheit politisch motiviert und ich hätte gerne gelesen wie das EGMR sich dazu verhält.  Wie es sich dazu verhält, dass man Menschen ohne Prozess, ohne irgendeinen strafrechtlichen Vorwurf einfach so, weil ihre Art sich politisch zu betätigen nicht ins Bilde der Herrschenden passt, tagelang einsperrt. Gut, wenn es ohne Blutvergießen und in einer Scheindemokratie mit einer Scheinanhörung (siehe Darstellung oben) passiert, ist ein bisschen Grundrechtsverletzung sicherlich nicht so schlimm – wie die Entscheidung zu den Haftbedingungen es  zeigt.


(Nicht)Verstoß gegen Art. 3 der Konvention

Die Klage wurde im übrigen für zulässig, jedoch unbegründet erklärt.
Das Gericht stellte zwar Verstoße gegen die Richtlinien vom Europäischen Kommitee zur Verhütung der Folter und folterähnlichen Behandlungen (CPT ) fest. Diese seien aber auf Grund der kurzen Dauer der Inhaftierung nicht schwerwiegend genug gewesen. Der Trick dabei: dadurch dass ich in zwei verschiedenen Zellen in Lüneburg und Braunschweig eingesperrt wurde, war ich jeweils nur „kurz“ drin. Die Zelle in Lüneburg war nicht in Ordnung, aber ich war nur 19 Stunden drin. Die Haftbedindungen in Braunschweig waren auch nicht in Ordnung aber das war ja nur für ca. 2 Tage. Guter Trick für die Polizei, wenn die Gefangenen alle zwei Tage von A nach B durch die Gegend karrt, dann ist alles in Ordnung mit zu kleinen lauten Zellen die den Schlaf rauben – und anderen Dinge die halt gegen die Forderungen des CPT verstoßen.
Das CPT  empfiehlt einen täglichen Hofgang von mindestens einer Stunde.  Das Gericht schreibt, es wäre „preferable“ gewesen, dass dies eingehalten wird, aber da der Gewahrsam nur dreieinhalb Tage andauerte, ist der Verstoß nicht schwerwiegend genug für die Feststellung eines Verstoßes gegen Art. 3 EMRK. Ich zähle nicht alles auf, die Entscheidung ist auf der Homepage vom EGMR nachzulesen.

Polizisten lernen Foltern

Interessant sind aber, für wer die ganze Entscheidung nicht durchlesen will (zugegeben, ist nicht sehr spannend), die Ausführungen des Gerichtshofes über die Folter-Bilder (siehe Bilder unten), die im Gewahrsamtrakt in Braunschweig an der Wand hingen, schreibt (und nicht schreibt): „The Court accepts that these pictures could arouse in detainees feelings of fear and helplessness.“ schreibt das Gericht. Es betont aber sogleich, dass die Bilder nicht in der Zelle waren und diese nur auf dem Weg zur Toilette sichtbar waren. Hinzu kommt, dass die Bilder ja nicht für mich bestimmt waren, sondern zum Zweck der Ausbildung der PolizeibeamtInnen.  „Hilfestellung zur korrekt angelegten Fesselung“ hieß es in einer Stellungnahme. Man kann sich fragen wieso PolizistInnen verbotene Fesselungsmethoden, die als Folter gelten, lernen sollen… dazu verhielt sich das Gericht nicht. Es nutzte nur die Behauptung der Bundesregierung, die Bilder seien für Polizei interne Trainings angebracht worden, um daraus eine nicht Verletzung meiner Rechte zu schließen, weil ich mit den Bildern nicht persönlich gemeint war.

Zu der umrahmten Delle in der Wand mit der Überschrift Kopfstoß gleich Kopflos, neben der Fesselungsbilder, verhielt sich das Gericht nicht. War das „Bild“ (die umrahmte Delle) auch „for internal training purposes“ dort angebracht ? Das Gericht hat es scheinbar lieber verschwiegen, weil es nicht im Sinne der restlichen Argumentation war. Psychofolter hat den Vorteil, dass es dabei kein Blutvergießen gibt und sie deshalb einfacher negiert werden kann. Auch hat sich das Gericht nicht zu der Frage der Haftbedindungenverhalten. Ob es einen Unterschied macht, dass es sich weder um polizeigewahrsam nach der StPO (wo die Polizei mind. einen strafrechtlichen Vorwurf (er)finden muss) n
och um das Absitzen einer Strafe (Strafhaft) handelte, sondern um einen präventiven polizeilichen Gewahrsam, der streng genommen keine Strafe ist. Und die Einschränkung als unzulässige Ersatzbestrafung angesehen werden können.


Vor wenigen Monaten sorgten Misshandlung auf einem Polizeirevier in Hannover für Schlagzeilen. Wenn aber erniedrigende folterähnliche Behandlungen zur Schulung von PolizeibeamtInnen gehören und dies selbst der europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Ordnung findet, sollte man sich über Misshandlungen in Polizeizellen nicht wundern!
Natürlich gibt es weit schlimmere Fälle als meinen Fall.  Aber wenn eine Gesellschaft folterähnliche Behandlungen duldet, wenn Polizeibeamten die Suggestion, dass man Menschen den Kopf gegen die Wand stoßen  kann – was anderes suggerierte die umrahmte Delle im Braunschweiger Gewahrsam, normal oder lustig finden, sollte man sich über Exzesse wundern.
Das ist der Grund weshalb ich diese Tatsache in meiner Klage aufgenommen habe und bei meinen Vorträgen unumwunden darüber spreche und darüber was der Psychoterror eines Staats auslösen kann spreche. Ich sehe mich als Sprachrohr um Zustände öffentlich zu machen und anzuprangern. Nicht jede(r) betroffene hat diese Möglichkeit. Damit setzte ich mich in meinem Buch « Kommen Sie da runter! » auseinander und meine Texte führen anlässlich von Lesungen immer wieder zu Reaktionen im Publikum. Die Reaktionen von den Menschen die mir begegnen und ihre Empörung und Solidarität zeigen sind mir wichtiger als die Entscheidung nach Aktenlage von RobenträgerInnen, die weit über die Wirklichkeit schweben und natürlich nicht frei von politischen Einflüssen sind.

Da die Polizei mich gerne willkürlich in Gewahrsam nimmt, werde ich sicherlich weitere Gelegenheit haben, vor dem EGMR  zu klagen und ich werde auf die Frist achten. Auch wenn es an der Sache eigentlich nichts ändert.  Die meisten Ingewahrsamnahme sind so offensichtlich rechtswidrig , dass bereits ordentliche Gerichte sie regelmäßig für rechtswidrig erklären (also geht das nicht bis zum EGMR) – und dann habe ich einen Zettel in der Hand wo es steht, dass es rechtswidrig war. (Siehe Liste hier)  Na toll. An die Willkür ändert es nichts. Es zeig nur, dass der Staat nicht mal in der Lage ist, die eigenen Gesetze einzuhalten. Und bei einer Klage vor dem EGMR gibt es dann lustige Stellungnahmen von der Bundesregierung. Mensch erfährt , dass Folter zur Ausbildung von PolizeibeamtInnen gehört. Und Super-Eichhörnchen ist sooo gefährlich, dass 18 000 PolizeibeamtInnen nicht ausreichend sind um die Gefahr abzuwenden und es deshalb unbedingt erforderlich ist, das Eichhörnchen tagelang einzusperren (Siehe Bericht zur Stellungnahme der Bundesregierung). Die ganze Geschichte ist für mich belastend gewesen – aber ich finde das ganze irgendwie auch lustig, so absurd es ist… Wenn man die Bundesregierung bei Wort nimmt, gefährdet Klettern richtig den Atomstaat! Eine Ermutigung weiter für eine bessere Welt zu klettern!

Und zur Gefahr Eichhörnchen, zur „Relevanz“ des Eichhörnchens kommt später noch einen weiteren Beitrag. Das LKA Niedersachsen macht es auf geheim, verweigerte zunächst zum Teil die Auskunft über gespeicherte Daten (darüber berichtete ich).  Nun hat es stückweise ein paar Infos preisgegeben, das BKA auch. Es klingt so: „Relevante Person“ „AG Personenpotenzial“, „AG Personenliste“ etc. Und es läuft eine Klage vor dem Verwaltungsgericht. Die Akte, die ich einsehen durfte, ist spannend. Geschätzt zu 70% geschwärzt! Spannend, die schwarze Akte…. all das weil Klettern (und oder das Eichhörnchen) sooo gefährlich ist. Die Klage läuft weiter.

Wehrt euch, leistet Widerstand gegen den (Atom)Staat! Klettert auf die Bäume!

Aktenzeichen: Application no. 80442/12 – Lecomte vs. Germany