Viel Protest und drei weitere Freisprüche in Lingen

Blockade der Brennelementefabrik von Framatome in Lingen, Januar 2019

Quelle nirgendwo.info – morgen findet der nächste Prozess statt.

Am 16. Juli wurde in Lingen gegen drei Atomkraftgegner verhandelt, welche die Brennelementefabrik im Januar 2019 blockiert haben sollen. Nicht nur im Gericht ging es hoch her, auch an der Brennelementefabrik wurde ein Atomtransport kurzzeitig gestoppt und vorm Gericht protestierten Menschen gegen Atomkraft und die Justiz, welche die Atomindustire schützt. Gleichzeitig wurde an die Jahrestage der ersten erfolgreichen Zündung einer Atombombe und die Uranminenkatastrophe von Church Rock erinnert, der größten Atomkatastrophe in den USA. Die Angeklagten wurden nach langem Kämpfen und 7-stündiger Verhandlung schließlich freigesprochen, am 30.7. soll es jedoch um 9 Uhr am Amtsgericht Lingen gegen den nächsten Beteiligten weiter gehen. Auch hier sind Publikum und solidarische Aktionen vor Gericht oder der Brennelementefabrik willkommen.

Um kurz nach acht Uhr trafen die ersten Demonstrierenden am Gerichtgebäude ein, erwartet schon von einem Aufgebot Polizei, einem gesperrten Seiteneingang und zahlreichen Gittern als Käfig für die Demonstrierenden– aus Angst, die Demonstrant*innen würden dem Gerichts aufs Dach steigen oder in Bäumen protestieren wolle, das hatte die Stadt nämlich zuvor in den Versammlungsauflagen verboten, genauso wie jegliche Redebeiträge durch das Verbot von Lautsprechern. Das Verwaltungsgericht Osnabrück hatte die Auflagen am Abend vorher bestätigt, so dass auch keinerlei weitergehende Klage möglich war. Im Beschluss war deutlich zu merken, dass das Verwaltungsgericht vor allem Kritik an Gerichten für problematisch hält und nicht akzeptieren will, dass auch dagegen Protest stattfindet. Na was soll da schon herauskommen, wenn Gerichte über Protest gegen Gerichte entscheiden? So fand die Kundgebung weitgehend stumm, aber mit zahlreichen Transparenten stand, die von den aufgestellten Gittern gut gehalten wurden.

Weitere Atomkraftgegner:innen demonstrierten zeitgleich vor der Brennelementefabrik gegen Atomtransporte. Sie dokumentierten die Versorgungstransporte der Anlage. Darunter eine Wasserstoff-Lieferung, die der Konzern Framatome für den Betrieb der Anlage benötigt und ein leerer Atomtransport mit dem Ziel Almelo (Urananreicherungsanalge von Urenco), so die Vermutung der Beobachterinnen. Das Fahrgestell war leer, es ist für UF6 Fässer vorgesehen. Für die Fertigung der Brennelemente benötigt Framatome Lingen entweder Uran in Form von UO2 oder von UF6 zur weiterer Verarbeitung – und das kommt unter anderem als Almelo nach Lingen. Der Transport konnte am Nachmittag kurzzeitig gestoppt werden. Leere Transporter sind künftige volle Versorgungstransporte.

ANF Framatome hatte am frühen morgen aus Angst vor dem Protest den eigenen Schichtwechsel gestört, indem der Konzern seine Schranke schloss. Zu diesem Zeitpunkt waren 3 Atomkraftgegnerinnen anwesend. Die Mitarbeiter:innen mussten ihren Arbeitplatz zu Fuß aufsuchen. Im späteren Verlauf wurde die Schranke zur Hälfte wieder aufgemacht.

Im Gericht begann es konfrontativ: Richter und Staatsanwältin tauschten sich, als schon das erste Publikum im Gericht saß und sie noch auf den Angeklagten aus dem vorherigen Prozess warteten über den Fall aus, dass der Zeuge von der Polizei P. gar nicht die ganze Zeit vor Ort gewesen sei, was problematisch sei und der LKW-Fahrer auch nichts taugliches aussagen könne, es aber ein interessantes Video gäbe. Diese Vorababsprachen führten zum Start mit einem Befangenheitsantrag gegen den Richter, der sich zwar mit der Staatsanwaltschaft abspreche, nicht aber mit der Verteidigung und es problematisch fände nichts Belastendes zu finden. Während der Prozess weiterlief wurde der Befangenheitsantrag vom Präsidenten des Amtsgerichts, Norbert Holtmeyer, abgelehnt, ohne dass der Prozessablauf dadurch wesentlich gestört wurde. Für eine Stellungnahme zu den Aussagen des Richters Ludes, der sich natürlich nicht für befangen hielt, wurden der Verteidigung ganze 2 Minuten eingeräumt.

Ansonsten lief die Fließbandjustiz aber nicht so glatt. Die Einlasskontrollen, bei denen auch zwei zugelassene Verteidigerinnen komplett durchsucht wurden, Personen ohne Ausweis willkürlich abgelehnt oder zugelassen wurden und Daten mit zahlreichen Datenschutzverstößen erhoben wurden, waren Thema eines langen Antrags dazu – der Richter erklärte sich überwiegend nicht zuständig, die Kontrollen hätte der Präsident vom Amtsgericht angeordnet und er hätte keinen Einfluss drauf, wer durchsucht wurde. Begründet wurde laut Richter Ludes die besondere Störungsgefahr dadurch, dass es „einen Antrag auf eine Versammlung vorm Gericht“ gegeben hätte. Dass ein Richter, der im Zusammenhang mit einer Versammlung u.a. beurteilen soll, ob es Verstöße gegen das niedersäschische Versammlungsgesetz gegeben hat, nicht weiß, dass Versammlungen nicht beantragt werden müssen, kritisierte das Publikum prompt. Richter Ludes waren die Durchsuchungen offensichtlich doch peinlich oder doch mindestens zu langwierig, was sich zeigte, als es nach einer Pause dann plötzlich doch wesentlich schneller und ohne entwürdigendes Abtasten ging – auf seine Anordnung hin.

In ihren Einlassungen kritisierten die Angeklagten die Auswirkungen der Atomkraft, vom Uranabbau im Niger über den schwersen Atomunfall der USA in Church Rock, bei dem Hinterlassenschaften des Uranabbaus vor genau 41 Jahren in die Umgebung gelangten bis hin zum 75. Jahrestag des ersten erfolgreichen Atombombentests und der damit verbundenen militärischen Geschichte der Atomkraft gingen die Themen. Bei der zweiten Einlassung versuchte der Richter den Angeklagten zu unterbrechen, er wolle nur zur Sache was hören. Da der Angeklagte jedoch drauf bestand, zu den Tatumständen was zu sagen und einfach weiter ließ gab der Richter irgendwann auf. Als der dritte dann vor seiner Einlassung erst lang und breit erklärte, dass er nicht unterbrochen werden wolle, entgegnete der Richter genervt: „legen Sie los, ich unterbreche Sie nicht“.

Als nächstes kam der Zeuge S., ein Sachbearbeiter bei der Polizei, der die Akten geführt hatte. Er konnte nicht trennen zwischen den Berichten, Fotos und Videos die er gesichtet hatte und seiner Erinnerung. Da er vor Ort zu den entscheidenden Zeitpunkten am Anfang und bei Aufforderungen nicht da war oder sich im Hintergrund hielt, konnte er wenig zur Anklage beitragen. Personalien hätte er handschriftlich bekommen, die handschriftliche Liste aber nicht mit zu den Akten genommen, welche von wann kamen und wer dazugekommen oder weggegangen sei, ließ sich daraus nicht feststellen. Fragen, ob er zum Staatsschutz gehöre, wollte er nicht beantworten.

Etwas interessanter war die Vernehmung des Einsatzleiters G., der die Einsatzleitung gegen 7 Uhr morgens übernommen hatte, aber auch nicht sagen konnte, wer wann wo genau was gemacht habe. Immerhin konnte er sagen, wen er womit beauftragt habe, denn er könne als Einsatzleiter „nicht alles selber machen“. Wer die Tripods aufgestellt hatte, konnte er nicht sagen. Generell war er sehr genervt davon Aktivist*innen Fragen beantworten zu müssen und reagierte aufbrausend und pampig, was die sowieso schon angespannte Verhandlungsatmosphäre weiter verschärfte (der Richter hatte auch schon vor Stunden fertig werden wollen und im Gang wartete wer laut Richter „auf seine Verurteilung“). Immerhin entschlüpfte G., dass er auch beim Brand an der ANF Einsatzleiter gewesen sei. Auf der einen Seite war der Zeuge überzeugt davon, dass alles in der Einsatzdokumentation korrekt protokolliert worden sei, auf der anderen Seite erfand er eine Auflösung bereits um 8 Uhr morgens, wo im Einsatzprotokoll nur eine Aufforderung stand und war sich da total sicher, dass er aufgelöst habe, obwohl er sich an den Wortlaut nicht erinnern könne. Den Unterschied zwischen Aufforderung und Auflösung konnte er aber nicht benennen. Der Streit darum eskalierte, sodass sich am Ende Publikum, Staatsanwaltschaft, Anwalt, Verteidigung und Gericht gegenseitig anschrien. Es folgte eine Pause.

In dieser Pause versuchte die Verteidigung von einem der Angeklagten den Richter und die Staatsanwältin davon zu überzeugen, dass es unter der gegbenen Beweislast zu keiner Verurteilung kommen könne, da nicht klar sei wer die Tripods aufgebaut hätte, welcher LKW-Fahrer eigentlich wann genötigt wurde und die Versammlung aufgelöst worden sei. Außerdem sei eine mögliche OWI in der gegen das Versammlungsgesetz vertoßen werde sowieso schon verjährt… Unter den Umständen könne der Zeuge G. Auch gleich entlassen werden.
Leider verneinte sowohl Richter als auch Staatsanwaltschaft diesen Vorschlag und so ging es mit erhitzen Gemütern weiter im Text.

Nach der Vernehmung folgte wieder eine kurze Debatte um den dritten Zeugen. Es wurde sich darauf geeinigt, das auch er wohl keine neuen Erkenntnisse zum Tatgeschehen liefern könne und es wurde auf ihn verzichtet.

Nach der Pause wurde dann das Video geschaut. Daraufhin wurde eine Einstellung ohne Auflage für zwei der Angeklagten, mit Auflage für den Dritten angeboten. Nach kurzer Besprechung wurde das abgelehnt: Position der Angeklagten war immer, Einstellung für alle oder keine*n.

Anschließend wurde darüber gesprochen, dass die Verteidigung noch weitere Beweisanträge habe und dann die Terminfindung für eine Fortsetzung. Als die sich als schwierig gestaltete, weil Kinderbetreuung auch für Angeklagte nicht einfach zu organisieren ist, wurde eine Zusammenfassung der Beweisanträge von der Verteidigung verlangt. Eine Zuschauerin wurde rausgeworfen, als sie anmerkte, dass die Verteidigungsstrategie wohl Sache der Verteidigung und nicht der Staatsanwaltschaft. Tatsächlich wurden dann noch zwei Beweisanträge verlesen, dann hatten Gericht und Staatsanwaltschaft keine Energie mehr und es wurde vereinbart, dass keine Beweisanträge mehr verlesen werden und dafür Freispruch erfolgt.

Raus ging es also mit drei hart erkämpften Freisprüchen nach fast 7-stündiger Verhandlung. Wenn Staatsanwaltschaft und Gericht Aktivist*innen nicht mehr sehen wollen, sollten sie aufhören zu versuchen zu spalten, und allen eine Einstellung ohne Auflagen anbieten.