Stell dir vor, du bist chronisch krank, hast kaum Energie, um den Alltag zu meistern, musst aber andauernd um Therapien und Hilfsmittel kämpfen. Das ist der Alltag von vielen Menschen mit chronischen Erkrankungen, von Menschen mit Behinderung.
Ich habe neulich über meinen – nach 5 Monaten gewonnenen – Kampf um die Übernahme der Kosten meiner CBD-THC Schmerzmittel und die unrühmliche Rolle des MDK geschrieben.
Heute geht es um die Hilfsmittelversorgung am Beispiel meines Rollstuhls.
Mein Arzt hat mir erstmalig einen neuen Rollstuhl vor gut einem Jahr verschrieben. Ich habe ihn bis heute nicht. Ich muss weiter einen alten Rollstuhl nutzen, der Stück für Stück auseinander fällt. Sicheres selbstständiges Fahren ist damit nicht mehr möglich. Hinzu kommt, dass ich eine fortschreitende Erkrankung habe und meine Bedürfnisse sich geändert haben. Ich dadurch die Nicht-Versorgung in meiner Selbstständigkeit und Mobilität eingeschränkt. Ich greife hier und da auf eine Notlösung, auf eine Leihgabe. Doch das ist kein Zustand: denn eine nicht angemessene Versorgung hat Folgeerkrankungen wie zum Beispiel Rückenbeschwerden, die mit der Zeit chronisch werden, zur Folge.
Die Krankenkasse hat aber kein Verständnis dafür, dass ein Rollstuhl nach 2 oder 3 Jahren außer Betrieb ist. Ein Ersatz steht Versicherten erst dann zu, wenn dies „wirtschaftlich“ ist, in der Regel höchstens alle 5 Jahren. Ich habe ein ganzes Jahr dafür gebraucht, meine Krankenkasse davon zu überzeugen, dass ich WIRKLICH einen neuen Rollstuhl brauche und darauf Anspruch habe. Seit wenigen Tagen ist der Bescheid zur Kostenübernahme endlich da. Ich atme aber erst auf, wenn der Rollstuhl auch da ist. Es kann noch eine Weile dauern, weil es wie zb bei Fahrrädern Lieferengpässe gibt.
Der medizinische Dienst – schon wieder
Der medizinische Dienst hat mir wie schon bei der Auseinandersetzung um die Kostenübernahme meiner Schmerztherapie viele Steine in den Weg gelegt.
Der Medizinische Dienst Niedersachsen wurde im Zuge des Gesetzes „für bessere und unabhängigere Prüfungen“ (MDK-Reformgesetz), das zum 1. Januar 2020 in Kraft getreten ist, in eine Körperschaft öffentlichen Rechts umgewandelt. Ziel des Gesetzes ist es – auf dem Papier -, die Unabhängigkeit des Medizinischen Dienstes zu stärken und die Transparenz über die Beratungs- und Begutachtungsaufgaben in der gesetzlichen Krankenversicherung zu erhöhen. Die Krankenkasse beauftragen den MDK (heißt also nun MD, aber ich nutze MDK, weil bekannter) mit Gutachten. Darin wird die Notwendigkeit und die Wirtschaftlichkeit der beantragten Versorgung geprüft. Nicht der behandelnder Arzt hat also das Sagen, sondern externe Gutachter*innen, die die Patient*innen nicht kennen.
Das ist meiner Meinung nach der erste Fehler. Was kann denn schon schief gehen, wenn außenstehende eine „Begutachtung“ zumeist nach Aktenlage vornehmen?
Was kann schon schief gehen, wenn der MDK zugleich die Geeignetheit / Notwendigkeit und die Wirtschaftlichkeit prüft? Das ist der zweite Fehler.
Antrag – Widerspruch – Antrag – Widerspruch – Antrag
Mein erster Antrag auf Rollstuhlversorgung wurde vor einem Jahr (Sommer 2020) schnell abgebügelt. Der MDK war der Auffassung, ich können nach nur 2 Jahren keinen neuen Rollstuhl benötigen. Die Umstände des Falles wurden ausgeblendet. Ich nahm meinen Antrag dann im Laufe des Widerspruchsverfahrens zurück und entschied mich zwecks besserer Hilfestellung und Beratung, das Sanitätshaus zu wechseln. Ich ließ mich ausführlich beraten, probierte diverse Antriebe und Rollstuhlmodelle ( März – April 2021). Ich stellte im Mai 2021 einen neuen Antrag. Dabei wurde ausführlich begründet, weshalb der aktuelle Rollstuhl nicht mehr funktionsfähig ist und meine Bedürfnisse aufgrund des Fortschreitens meiner Erkrankung sich geändert haben. Meine Krankenkasse schaltete den MDK erneut ein. Das Gutachten „nach Aktenlage“ kam erst nach zwei Monaten. Der MDK empfahl meiner Krankenkasse, die Versorgung abzulehnen. Ich sollte statt den beantragten aktiv-Rollstuhl mit separatem Antrieb, einen voll elektrischen bekommen. Beim MDK glaubt man die Versicherten grundsätzlich nicht, selbst wenn eine Probe statt gefunden hat. Man entscheidet nach Aktenlage. Und das Gutachten lies Zweifel an der Qualifikation der Gutachterin aufkommen, denn sie hatte die technischen Eigenschaften des beantragten Antriebs falsch dargelegt. Die technischen Mängel des aktuellen Rollstuhls wurden zudem in Frage gestellt. Ich solle Videos an meine Krankenkasse schicken und vorführen, wie ich dem alten und dem neuen (??? wie geht das? Habe ich ja noch nicht) Rollstuhl fahre. Die Krankenkasse bekam von mir 8 Sekunden Video mit dem alten Rollstuhl.
Der Widerspruch wurde ausführlich begründet. Ich konnte schließlich durchsetzen, dass das neue MDK Gutachten nicht nach Aktenlage erfolgt und wurde in die Räumlichkeiten des medizinischen Dienstes eingeladen, ein Mitbewohner begleitete mich dort hin – denn ohne richtig fahrenden Rollstuhl und ohne ÖPNV wäre ich ansonsten gar nicht hingekommen! Die Adresse ist weit weg von der Innenstadt, ohne Busverbindung dorthin für mich. Aber das interessiert ja nicht…
Die Begutachtung dauerte 40 Minuten an. Es wurden mir viele Fragen gestellt. Ich war sehr angespannt. Es fühlte sich wie in einem Verhör an. Danach war ich für den Tag erschöpft, ich wollte nur noch schlafen. Anwesend waren eine Ärztin und ein Spezialist für Orthopädietechnik, der sich mit Rollstühlen auskennt (immerhin).
Ich musste weitere drei Wochen auf das neue Gutachten warten. Die persönliche Begutachtung ermöglichte immerhin eine Korrektur des bisherigen Gutachtens. Die Mängel am aktuellen Rollstuhl wurden bestätigt (spoiler! Ich, mein Arzt, das Sanitätshaus, wir alle hatten die Wahrheit gesagt!). Bestätigt wurde auch, dass ich einen aktiven Rollstuhl doch sicher bedienen kann, wenn sowohl Rollstuhl als auch Antrieb meinen Einschränkungen angepasst werden.
Wirtschaftlichkeit geht vor Gesundheit
Aber…. Überraschung! Der MDK hat der Krankenkassen empfohlen, die Versorgung abzulehnen! Es wurde mir erneut empfohlen meinen Widerspruch zurück zu nehmen. Dieses mal aufgrund der Höhe des Kostenvoranschlags des Sanitätshauses. Sowas kommt von sowas wenn in einem Gutachten gesundheitliche und wirtschaftliche Erwägungen vermischt werden.
Der MDK führte aus, das Sanitätshaus habe die üblichen Rabatte nicht gewährt.
Außerdem seien Zubehör wie pannensichere Bereifung oder eine Einhandbremse eine „Überversorgung“ also aus ärztlicher (jaja so wird es verpackt) Sicht nicht angezeigt. Und anderes billigeres Rollstuhlmodell sollte auch gewählt werden. Ich finde das ist ein bisschen als ob man Menschen die Laufen können, vorschreiben würde, welche Schuhe sie anziehen dürfen!
Bewilligung!
Ich war am Rande der Verzweiflung. Die Mängel des alten Rollstuhls wurden immer mehr. Inzwischen sind sogar die Lenkräder beschädigt, ein Rollstuhl, den man nicht lenken kann…ist kein Rollstuhl mehr!
Das von mir gewählte Sanitätshaus war ein kleines Start-up, das die Rabatte nicht gewähren konnte. Es musste den Auftrag an ein anderes abgeben. Die Menschen vom Sanitätshaus waren zum Glück sehr schnell bei mir und ein neuer Kostenvoranschlag wurde erstellt. Ich nahm meinen Widerspruch zum zweiten mal zurück und stellte den neuen Antrag. Das Sanitätshaus telefonierte mit der Krankenkasse, wies auf die Dringlichkeit hin. Nach ein wenig Diskussion über die eine oder andere Option am Rollstuhl, wurde die Kostenübernahme schließlich schnell bewilligt. Kein weiteres Einschalten des MDK. Und Immerhin, kein Gerichtsverfahren (anders als bei der Schmerztherapie worüber zuvor berichtete)!
Ich muss mich nun bis zum Eintreffen des Rollstuhls gedulden, weiter auf Notlösungen zurück greifen. Aber ich weiß nun immerhin: der Rollstuhl und der Antrieb Smartdrive kommen!
Die Ablehnung wegen mangelnder Wirtschaftlichkeit hat die Bewilligung um fast 2 Monate verzögert. Und so « wirtschaftlich » ist das Ganze meiner Auffassung nach nicht! Oder wie viel haben die insgesamt vier MDK Gutachten gekostet? Ich wüsste gern wie viel so ein MDK Gutachten im Durschnitt kostet!
Forderungen
„du wirst dich durchsetzen, ich bin es mir sicher“ meinte eine Freundin als ich am verzweifeln war. Recht hatte sie. Der Kampf mit Krankenkassen und Ämtern um Therapien, Hilfsmittel, finanziellen Hilfen ist aber ein Vollzeitjob! Das muss dringend reformiert. Ein MDK Etikettenschwindel ist dafür nicht geeignet.
Ich habe meine Erfahrung hier geschildert, um die Probleme sichtbarer zu machen. Diese Probleme haben System, mein Fall ist keine Ausnahme. Struktureller Ableismus, ist das.
Diesen Forderungen der Initiator*innen der Petition „Stoppt die Blockade der Krankenkassen bei der Versorgung schwerst behinderter Kinder/ Erwachsener“ schließe ich mich an:
- keine systematische Infragestellung ärztlich eingeleiteter Therapien oder Verordnungen durch Krankenkassen
- direkte Kostenübernahme verordneter Hilfsmittel
- ausnahmslose Kostenübernahme fachärztlich verordneter Medikamente
- keine fachfremden Gutachten durch den MDK
- keine Gutachten nur nach Aktenlage
- keine Verzögerung der Therapien durch lange Bearbeitungszeiten der Krankenkassen
ich füge hinzu: Gesundheit geht vor « Wirtschaftlickeit »!
Am Beispiel Rollstuhl: Egal wie alt der Rollstuhl ist. Wenn er schwere Mängel aufweist, wenn es zu der Behinderung nicht mehr passt. Dann ist es egal ob er 2 oder 5 Jahre alt ist!!! Ein neuer muss her. Der alte kann wenn er noch in Ordnung ist, einer anderen Person für die er geeignet ist, zur verfügung gestellt werden. Oder Mensch behält ihnals « Notlösung ». Wenn der neue bei der Reparatur ist… das ist nämlich immer ein großes Problem für Betroffene.