Für eine inklusive sozial-ökologische Verkehrswende!
Die heutige Verkehrspolitik ist ableistisch* und bereitet vielen Menschen mit Behinderung viele Hindernisse. Deutschland hat die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) 2010 unterzeichnet. Die Unterschrift gaukelt guten Willen vor. Die Umsetzung lässt auf sich warten – etwa wie beim Pariser Klimaabkommen. Deutschland profiliert sich international als Klimaretter. Im Inland kündigt es die Klimaziele auf und blockiert die Energie- und Verkehrswende. Die UN-BRK hat eine inklusive Gesellschaft ohne Barrieren und Diskriminierung zum Ziel. Wir sind in vielen Bereichen noch sehr weit von diesem Ziel entfernt. Der Verkehrssektor ist da nicht ausgenommen.
Das Auto bedeutet heute für viele Menschen mit Behinderung Freiheit. Diese Freiheit gibt es für motorisch eingeschränkte Menschen zwar nur bedingt, weil der behindertengerechte Umbau eines Fahrzeuges kostspielig ist und eine finanzielle Förderung nur für Menschen die das Auto für ihre Arbeit benötigen vorgesehen. Freizeit zählt nicht. Nicht wenige Menschen legen sich trotzdem ein Auto zu, weil es für sie die einzige Möglichkeit ist, die physischen Hindernisse in ihrem Alltag zu überwinden.
Genau diese (Be)Hindernisse stehen einer ökologischen Mobilitätswende im Wege. Es darf und kann keine Verkehrswende ohne Barrierefreiheit geben.
Ich bin Rollstuhlfahrerin und habe kein Auto. Ich fühle mich trotzdem frei. Ich sehe mich jedoch mit zahlreichen Hindernissen im Alltag konfrontiert, ich bin häufig auf eine Fahrt mit dem Auto von Bekannten angewiesen, weil es für mich keine andere Lösung gibt. Mich behindert die nicht passende Verkehrsinfrastruktur, wie die nicht barrierefreie Bushaltestelle um die Ecke, der Enge Bus, die Anmeldefrist für das Mobilitätsdienst der Bahn. Die meisten Fahrten, wo ich in ein Auto nutze, wären vermeidbar. Diese sind oft das Ergebnis mangelnder Barrierefreiheit des ÖPNV und weiterer gemeinschaftlicher barrierefreier Mobilitätsangebote wie beispielsweise barrierefreie Car-Sharing-Systeme. Mit Barrierefreiheit ist hier nicht ausschließlich der bauliche Aspekt für Rollstuhlfahrende und gehbehinderte Menschen gemeint. „Barrierefreiheit“ bedeutet, dass jeder Mensch alles im Lebensraum, der barrierefrei gestaltet wurde, betreten, befahren und selbständig, unabhängig und weitestgehend ohne fremde Hilfe sicher benutzen kann. Hierzu zählt beispielsweise auch ein Leitsystem für blinde Menschen im öffentlichen Personenverkehr (ÖPV) eine barrierefreie Homepage mit dem ÖPV oder Car-Sharing Angebot.
Das Personenbeförderungsgesetz sieht vor, dass „für die Nutzung des öffentlichen Personennahverkehrs bis zum 1. Januar 2022 eine vollständige Barrierefreiheit zu erreichen“ sei. (§ 8, Abs. 3 PbefG). Das Gesetz bietet jedoch viele Schlupflöcher. So kann eine Behörde die Nicht-Einhaltung der Frist damit begründen, dass der Umbau außerordentlich umständlich ist: gute begründete Ausnahmefälle, die zur Regel geworden zu sein scheinen. Inklusion und Teilhabe müssen häufig vor wirtschaftlichen Belange und einer ableistischen Grundhaltung der verantwortlichen Behörden zurück treten.
Ein Beispiel aus der Provinz:
Ich lebe in Lüneburg, einer 80 000 Einwohner*innen Stadt im Norden Deutschlands. Mein Weg vom Stadtviertel Kaltenmoor mit dem Bus in die Innenstadt ist beschwerlich. Ich wohne in einem Viertel mit vielen Familien mit geringem Einkommen und älteren Menschen. Der Bedarf an barrierefreie Mobilität ist groß. Das Geld fließt aber eher in den Straßenbau und weiteren Baumaßnahmen, die vor allem der Stadtbildpflege dienen, als in die Barrierefreiheit. Die Start- und Endstation der meist genutzten Buslinie im Viertel ist nicht einmal barrierefrei umgebaut. Für mich bedeutet dies: ich muss mir helfen lassen, um die steile Rollstuhlrampe in den Bus zu nutzen. Im Bus müssen sich dann Rollstuhlfahrende den Platz mit Menschen mit Rollatoren und Kinderwagen teilen. Und es stellt sich immer wieder die Frage: wer wird stehen gelassen und muss auf den nächsten Bus 30 Minuten später warten: ich oder die Person mit Kind und Kinderwagen?
In der Innenstadt sieht es nicht besser aus. Der Platz am Sand ist ein zentraler Umsteigeplatz mit vielen Bushaltestellen. Diese sind nicht barrierefrei ausgebaut und die Wege mit Kopfpflastersteine holprig. Auf Nachfrage gibt die Hansestadt preis, dass es noch keine konkreten Planungen für den Umbau gebe – und dies im Jahr 2021!
„Der Platz Am Sande dient als zweiter zentraler Umstiegsplatz in der Lüneburger Innenstadt und hat neben dem Zentralen Omnibusbahnhof am Bahnhof die meisten Ein- und Ausstiege. Mit Blick auf eine Umgestaltung sind hier in erster Linie der Denkmalschutz und die Stadtbildpflege zu beachten,die wir insgesamt bei der Gestaltung des Platzes berücksichtigen müssen. […]
Hansestadt Lüneburg
Das Argument der „Stadtbildpflege“ ist für betroffenen Menschen, die auf Barrierefreiheit angewiesen sind, ein Schlag ins Gesicht. Das Schicki-micki Aussehen des Platzes ist der SPD-geführten städtischen Verwaltung offenbar wichtiger als Teilhabe und Inklusion. Diese Rechtfertigung für den nicht zeitigen barrierefreien Umbau dürfte den gesetzlichen vorgaben nicht entsprechen.
In Sache Bahn und Fernverkehr stehen wir nicht besser da. Wer mit der Bahn im Fernverkehr reisen will, muss sich beim Mobilitätsdienst zwei Tage im voraus anmelden, damit beim Einstieg ein Hublift – der wie einen großen Käfig aussieht – für den Rollstuhl zur Verfügung steht oder Personal sehbehinderte Menschen bei der Orientierung unterstützt. Betroffene sind von der Verfügbarkeit von für den Hublift geschultes Personal, von den von Bahnhof zu Bahnhof unterschiedlichen Dienstzeiten abhängig. Nach Aussage der Bahn gilt eine Verbindung mit diesen Hindernissen als barrierefrei. Als hätten Menschen mit Behinderung keine spontane Termine! Manche Bahnhöfe haben gar kein Servicepersonal, so dass Betroffene dort vom Fernverkehr ausgeschlossen sind. Hinzu kommt, dass nicht immer eine freie Verbindungswahl besteht. Die Anzahl an Rollstuhl-Plätze ist begrenzt, manchmal gibt es gar keinen Rollstuhlplatz, weil der Wagen fehlt. Oder der Hublift ist nicht einsetzbar, weil der Bahnsteig dafür baulich nicht geeignet ist.
Die Bahn zementiert diese Politik für die nächsten Jahrzehnte, denn sie schert sich um Barrierefreiheit bei der Anschaffung von neuen ICE. Sie bestellt ICE Züge mit Treppen, obwohl es möglich ist, stufenlose Schnellzüge zu bauen. Und wer eine Bestätigung vom Mobilitätsdienst erhält, ich noch lange nicht am Ziel. Es kann immer ein defekter Aufzug dazwischen kommen – ein Problem den es auch im Nahverkehr gibt. Oder die Tür des einzigen Wagen mit einem Platz für den Rollstuhl ist außer Betrieb. Wer es in den Zug geschafft hat, muss häufig damit klar kommen, dass die Universaltoilette nicht funktioniert. Die Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland e.V. hat auf ihren Blog barrierefreiebahn.de unzählige Beispiele dokumentiert.
Der barrierefreie Ausbau des öffentlichen Nah- und Fernverkehr ist dringende Voraussetzung für eine sozial-ökologisch gestaltete Verkehrswende. Veränderungen wird es nur mit Druck von unten geben.
Als Umweltaktivistin habe ich Erfahrung mit der Blockade von Zügen. Ich hätte allerdings nie gedacht, dass ich eines Tages etwas anderes als Atom- und Kohlezüge blockieren würde! Dies geschah im Herbst 2018, als ich keine andere Möglichkeit sah, mein Recht auf Beförderung gegen die diskriminierende Bevormundung durch das Zugpersonal durchzusetzen. Die Zugchefin lehnte die Beförderung ab, weil die universal Toilette außer betrieb war. Mein Einwand, ich dürfte selbstbestimmt entscheiden, ob ich trotz nicht nutzbarer Toilettenanlage für die 1-stündige Fahrt einsteige, oder nicht, half nicht. Die Hilfe zum Einsteigen mit Hublift wurde mir verweigert. Ich setzte mich daher vom Rollstuhl auf die Stufen im Eingang des ICE um und blockierte so die Tür. Das Personal rief den Sicherheitsdienst und die Polizei zur Hilfe, diese fühlte sich jedoch für den Toiletten-Streit nicht zuständig. Mein Rollstuhl wurde in den Zug getragen und ich konnte schließlich mitfahren. Die Nachricht, die ich live im Social-media postete, erfuhr viel Aufmerksamkeit und half möglicherweise, die Bahn umzustimmen. Der Zwischenfall verursachte 15 Minuten Verspätung. Ich hatte bei dieser spontan aus der Not geborenen Eine-Fau-Blockade ein mulmiges Gefühl. Ich hätte es mir ohne aktivistische Erfahrung im Hintergrund möglicherweise nicht getraut, die Aktion durchzuführen.
Doch dieses Beispiel zeigt: direkte Aktion wirkt besser als Beschwerden bei der Bahn. Ich habe unzählige Beschwerden eingereicht. Die DB gelobt Besserung. Doch es passiert so gut wie nichts. Das Unternehmen Refundrebel hat im Sommer 2020 die Initiative „ Entschädigung bei Barrieren“ gestartet und bittet Betroffenen Hilfeleistung bei der Durchsetzung von Schadenersatzansprüchen für die erlittene Diskriminierung. Ein kleiner wichtiger Trost für Betroffenen. Die Beträge halten sich allerdings in Grenzen, die Bahn spart mehr daran, Schmerzensgeld zu zahlen, als würde sie ihr System grundlegend verändern und Barrierefreiheit gewährleisten. Geld macht Diskriminierung außerdem nicht wieder gut und schafft sie auch nicht ab.
Je mehr Menschen sich in unterschiedlicher Art und Weise widersetzen oder Betroffene dabei unterstützen, desto mehr Chancen auf Veränderung. Ich freue mich daher, wenn ich davon höre, dass andere Betroffenen sich im Alltag ebenfalls wehren. Im Winter 2020 weigerte sich ein Rollstuhlfahrer, aus einem Zug auszusteigen. Dies verlangte das Zugpersonal, weil die behindertengerechte Toilette – mal wieder – außer Betrieb war. Die Polizei wurde gerufen und veranlasste die Räumung des gesamten Zuges! Dem Reisenden wurde dabei Hausfriedensbruch zur Last gelegt. Die unverhältnismäßige willkürliche Aktion von Bahn und Polizei hatte allerdings den Vorteil, dass viele Menschen schließlich betroffen waren und sich dabei vielleicht zum ersten mal Gedanken über Barrierefreiheit gemacht haben. Viele Probleme sind Menschen ohne Behinderung mangels Betroffenheit nämlich nicht bewusst.
Menschen mit Behinderung sind und haben keine große Lobby und Barrierefreiheit wird als lästige teure Angelegenheit betrachtet Allein können sie sich gegen Diskriminierung nicht effektiv und grundlegend wehren, so dass wirkliche Verbesserungen spürbar sind.
Der Zusammenschluss von Akteuren aus verschiedenen politischen Bewegungen kann ein Schlüssel zum Erfolg sein. Daher mein Plädoyer, für einen Zusammenschluss von Menschen aus den Klima- und Behindertenrechtsbewegungen, für direkte gemeinsame Aktionen.
Die USA sind in Sache Barrierefreiheit und Behindertenrechte ein Stück weiter als viele europäischen Ländern. Dies ist der starken Behindertenrechtsbewegung der 70er Jahren zu verdanken und der Zusammenarbeit mit der civic right movement und den Black Panthers. Der preisgekrönte Film Crip Camp: A Disability Revolution, USA 2020, von James LeBrecht, Nicole Newnham (auf deutsch: Sommer der Krüppelbewegung) gibt spannende Einblicke in diesem Kampf, er zeigt wie eine „Graswurzelbewegung“ sich „intersektional“ organisierte, also viele Identitäten mitdachte, und dadurch erfolgreich wurde.
Mara Nothers in ihrer Filmkritik für die Zeitschrift Graswurzelrevolution Nr. 453, November 2020:
„Als Präsident Nixon 1973 den Rehabilitation Act – welcher Diskriminierung aufgrund von Behinderung in allen staatlich finanzierten Einrichtungen verbietet – mit einem Veto verhindern will, mit der Begründung, die Umsetzung sei zu teuer, blockieren die DIA [Disabled in Action] eine Kreuzung vor Nixons Hedquarter. „What do we want? Civil right! When do we want it? Now!“, skandieren sie. Zentral im Disability Rights Movement ist einer Gruppe Freund*innen, die sich in Camp Jened kennen gelernt hat. […] Im Camp haben sie sich vernetzt, Vertrauen aufgebaut und sie haben erfahren, dass eine bessere Welt möglich ist, für die es sich zu kämpfen lohnt. Nixon gibt dem Druck nach und unterschreibt den Act, tut aber nichts für die Umsetzung. Die Bewegung begnügt sich nicht damit Forderungen an die Regierung zu stellen, im „Center for independent Living“ leben Menschen mit Behinderung zusammen und probieren im Kleinen, was später überall verwirklicht werden soll. Sie organisieren ihre Betreuungspersonen und bauen elektrische Rollstühle. Im Kampf um die Implementierung des Abschnitts 504 des Rehabilitation Acts, besetzen die Aktivist*innen spontan das zuständige Regierungsgebäude. Menschen die nicht gehen können, sich nachts nicht selbstständig drehen können belagern die Flure eines Regierungsgebäudes, die Black Panthers kochen solidarisch Mahlzeiten. […].“
Mara Nothers
Die Besetzung eines Regierungsgebäudes für die Umsetzung des « Rehabilitation Act » mit ca. 150 Aktivist*innen dauerte im Jahr 1973 schließlich 25 Tage, bis der Druck von unten auf die Politik so groß wurde, dass Forderungen der Aktivist*innen schließlich in großen Teilen erfüllt wurden.
Eine inklusive Verkehrswende ist möglich, wenn alle an einem Strang ziehen. Dabei ist es wichtig, dass nicht über sondern mit den Menschen mit Behinderung gesprochen wird und gemeinsam für die Umsetzung der Verkehrswende gekämpft wird.
Menschen mit Behinderung und ihr nahes Umfeld sind in der Regel bestens informiert und können als Menschen vom Fach kompetent an Lösungskonzepten mitarbeiten. Zu oft werden Projekte umgesetzt, ohne Menschen mit Behinderung zu involvieren oder auf ihre Kritik zu hören.
Wir brauchen viele Menschen mit und ohne Behinderung, die zusammen für eine bessere diskriminierungsfreie Welt und eine echte inklusive sozial-ökologische Verkehrswende streiten! Lasst uns am besten schon gestern damit beginnen!
Cécile Lecomte
* Ableismus – aus dem Englischen to be able (= fähig sein) – bezeichnet die Abwertung und strukturelle Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen. Beim Ableismus geht es darum, wie nicht-behinderte Menschen das Leben von Menschen mit Behinderung bewerten; welche Bilder und Stereotypen sie im Kopf haben, wenn sie an behinderte Menschen denken. Es geht aber auch um die Barrieren, die die Gesellschaft schafft und aufrecht erhält. Menschen werden durch die Gesellschaft behindert.